Schottland Nach dem Brexit ist vor dem Unabhängigkeits-Referendum

2014 stimmten die Schotten gegen die Unabhängigkeit von Großbritannien. Bis zum Brexit schien der Verbleib im Empire besiegelt. Und nun? Welche Chancen Schottland auf die Unabhängigkeit und auf einen EU-Beitritt hat.

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Schottland Quelle: dpa, Montage

Es ist der 19. September 2014. Alex Salmond, Ministerpräsident Schottlands und Vorsitzender der Scottish National Party (SNP), versucht, seine größte politische Niederlage zu einem Triumph zu verklären: „Wir haben Teile der Gesellschaft berührt, die sich sonst nicht von Politik berühren lassen.“

Die schottische Nationalbewegung, angeführt von der SNP, hatte zuvor versucht, das Land per Referendum vom Rest des Königreichs loszueisen. Das Ergebnis fiel deutlicher aus, als erwartet. 55 Prozent der 5,3 Millionen Schotten stimmten gegen die Unabhängigkeit.

Salmond legte noch am selben Tag den Parteivorsitz nieder. Was er bei seiner Rücktrittserklärung sagte, lässt heute aufhorchen: Schottland habe „mit Mehrheit entschieden, zu diesem Zeitpunkt kein unabhängiges Land zu werden.“

„Zu diesem Zeitpunkt“: Nach dem Brexit-Votum der Briten erhält dieser Teilsatz neue Brisanz.

Bereits am Freitag kündigte Salmonds Nachfolgerin an der SNP-Spitze, die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon, an, was bis zum Brexit ausgeschlossen schien: ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Am Samstag legt die Politikerin nach: „Das Kabinett hat zugestimmt, dass wir umgehend Gespräche mit EU-Institutionen und anderen EU-Mitgliedsstaaten aufnehmen, um alle Möglichkeiten auszuloten, Schottlands Platz in der EU zu schützen.“ Auch die rechtlichen Voraussetzungen für ein neues Referendum werden bereits geprüft.

2014 war die Loslösung von Großbritannien am Volk gescheitert. „Viele Schotten haben ihre Entscheidung, Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben, in der Annahme gefällt, nur so könnten sie Teil der EU bleiben“, erklärte Sturgeon. Die EU hatte sich damals gegen die Aufnahme eines unabhängigen Schottlands positioniert. Heute sind die Karten neu gemischt.

Wie die Chancen auf eine Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien stehen und wie die Beziehung zur EU bald aussehen könnte.

Wie hat sich die Situation in Schottland gegenüber 2014 geändert?

David Cameron riskierte mit dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit vor zwei Jahren die Einheit Großbritanniens. Das wurde dem britischen Premierminister bewusst, als sich kurz vor der Wahl eine Mehrheit für den Austritt abzeichnete.

Er wolle nicht erleben, dass seine Kinder in eine ausländische Hauptstadt ziehen müssen, wenn sie an der Edinburgh University studieren wollen, verkündete Cameron daraufhin. Er versprach den Schotten „weitreichende neue Befugnisse“ für das Regionalparlament.

Nach dem Referendum war das Versprechen vergessen. Die Schotten fühlten sich verraten und zogen Konsequenzen. Die SNP ging deutlich gestärkt aus der Unabhängigkeitsabstimmung hervor – trotz der Niederlage. Die Mitgliederzahl verfünffachte sich. 115.000 Mitglieder zählt die Partei mittlerweile.

Bei der britischen Unterhauswahl im vergangenen Jahr profitierte die SNP ebenfalls. Sie gewann 56 der 59 schottischen Wahlkreise und kam auf mehr als 50 Prozent der Stimmen. Fünf Jahre zuvor waren es nur sechs Wahlkreise und knapp 20 Prozent. Die Partei an der Spitze der schottischen Unabhängigkeitsbewegung ist stark wie nie – auch dank Cameron.

Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung

Dass die Schotten nicht mehr ins Königreich passen, dürfte spätestens nach dem Brexit-Votum nicht mehr von der Hand zu weisen sein. Neben London und Irland hat sich Schottland eindeutig für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. 62 Prozent wählten entsprechend, während weite Teile Englands und Wales für den Brexit stimmten.

„Wenn es nach den Schotten ginge, blieben sie Teil der Europäischen Union – auch ohne den Rest Großbritanniens“, sagt Roland Sturm, Inhaber des Lehrstuhls für politische Wissenschaften an der Universität Erlangen. „Aber das geht nicht, weil Schottland keine eigene EU-Mitgliedschaft hat.“ Tritt Großbritannien aus, müssen die Schotten vorerst mitgehen – zumindest wenn sie ein Teil Großbritanniens bleiben.

Die Gesellschaft im Königreich ist gespalten

Die SNP unternimmt aktuell alles, um das zu verhindern. Aus Sturms Sicht ist es „politisch klug“ von der SNP, „das heiße Eisen zu schmieden“. Er gibt allerdings zu bedenken: „Für ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum bedarf es einer Anpassung des Scotland Acts, also zuerst der Gespräche mit der britischen Regierung und dann eines Parlamentsbeschlusses.“

Wie wahrscheinlich ist eine Trennung vom Königreich?

Die Parteien Schottlands stehen fast alle hinter der EU. Bei einer Debatte im Parlament in Edinburgh sprach sich die große Mehrzahl der Parlamentarier für den Verbleib aus.

Und die Bevölkerung? „Vor zwei Jahren haben die Schotten gegen die Unabhängigkeit von Großbritannien gestimmt, weil sie nur so Teil der Europäischen Union bleiben konnten“, sagt Werner Weidenfeld, Direktor des Centrum für angewandte Politikforschung an der LMU München. Heute sieht er keinen Grund mehr, warum sich eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Verbleib im Königreich aussprechen sollte. Ob England, Schottland und Irland ein Staat bleiben? „Die Perspektive ist nur noch theoretisch gegeben“, sagt Weidenfeld.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Die Gesellschaft im Königreich ist längst gespalten. Das wurde in den vergangenen Wochen so deutlich wie nie zuvor. „In der Brexit-Debatte sind die schottischen Sorgen permanent unter den Tisch gefallen, genauso wie die nordirischen“, sagt Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Programms „Europas Zukunft“ bei der Bertelsmann-Stiftung. „Die Rücksichtslosigkeit der Engländer gegenüber den anderen Landesteilen war deutlich spürbar.“ Während der ganzen Debatte habe niemand darüber gesprochen, was ein Brexit etwa für Schottland bedeuten würde oder für den Konflikt in Irland.

Nicht nur UKIP-Chef Nigel Farage - auch zahlreiche Mitglieder Konservativen - brachten weniger eine Sehnsucht nach einem eigenständigen Großbritannien zum Ausdruck, als vielmehr den Wunsch nach einem „Little Britain“.

Wie schnell könnte ein Referendum zur Abspaltung Schottlands kommen?

Der radikale Parteiflügel der SNP würde sich lieber heute als morgen aus dem Königreich verabschieden. Doch Sturgeon hat schon vor dem Brexit-Referendum deren Erwartungen gedämpft.


Grund für ihre Zurückhaltung ist die wirtschaftliche Lage Schottlands, die vor allem vom Öl abhängt. Es ist für ein Fünftel des schottischen BIPs verantwortlich. Der Ölpreisverfall hat bereits 65.000 Jobs im Land gekostet.

Für viele Schotten stellt sich deshalb mehr denn je die Frage, ob das Land eigenständig lebensfähig wäre. Auch die Haushaltslage ist desolat. „Aktuell ist Schottland auf die Zuwendungen aus dem britischen Haushalt angewiesen“, sagt Fritz-Vannahme.

Andererseits hat Sturgeon aktuell ein eindeutiges Votum der Schotten für einen Verbleib in der EU hinter sich sowie die Mehrheit der Bevölkerung. „Wenn Sturgeon wartet, bis es neue Unterhauswahlen gibt, könnten sich die Kräfteverhältnisse zu ihren Ungunsten verschieben“, so Fritz-Vannahme. „Sturgeon wird erst einmal abwarten müssen.“ Der Europa-Experte geht aber davon aus, dass es in den nächsten zwei Jahren zu einem Referendum kommen wird.

Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS


Zumal bis 2020 mehr als 900 Millionen Euro aus den Strukturförderfonds der EU an Schottland fließen sollen. Geld, das im Falle eines Austritts aus der EU mit dem Rest des Königreichs verloren wäre.

Wie groß sind die Chancen, dass Schottland in den nächsten Jahren Teil der EU wird?

Vor zwei Jahren hat Brüssel deutlich gemacht, dass ein unabhängiges Schottland keine Chance hat, Teil der EU zu werden. Vor allem Spanien stemmte sich dagegen, um der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung kein Vorbild zu servieren. Dem Beitritt eines neuen Landes müssen alle EU-Mitgliedsstaaten einstimmig zustimmen. Scheitern die schottischen Hoffnungen also an Spanien?

Vorsicht vor dem Domino-Effekt


Das ist nicht sicher. Heute stellt sich die Situation für Spanien und damit auch für die EU anders dar. „Die Spanier müssen nicht wie vor zwei Jahren befürchten, dass das schottische Beispiel Katalonien beeinflusst“, sagt Fritz-Vannahme. Denn diesmal sind die Briten die Spalter und Schottland klammert sich mit aller Macht an den Verbleib in der EU.

Das eröffnet neue Möglichkeiten. Noch ist unklar, wie Spaniens Regierung künftig aussieht. Eine linke Regierung etwa könnte für die „Stimme des Volkes“ deutlich aufgeschlossener sein, schätzt Fritz-Vannahme. „Wie die Spanier im Einzelnen argumentieren werden, wissen wir nach den Wahlen am Sonntag.“

Ein weiteres Problem ist der desolate schottische Haushalt, der wohl kaum den EU-Aufnahmekriterien gerecht wird. Und der anstehende Brexit könnte das noch weiter verschärfen, schätz Fritz-Vannahme: „Die wirtschaftliche Situation Schottlands ist aktuell sehr knifflig.“


Die Chancen für eine Annäherung an die EU stehen alles in allem besser als noch 2014. Ob ein EU-Beitritt allerdings in absehbarer Zeit realistisch ist, bleibt abzuwarten.

Wie wird die EU sich gegenüber einem unabhängigen Schottland positionieren?
Politikwissenschaftler Weidenfeld geht davon aus, dass die EU sehr kooperativ gegenüber Schottland als Beitrittskandidat sein dürfte. Zumal das Land bereits den gesamten Gesetzesapparat der EU übernommen und bis runter in die administrative Ebene umgesetzt hat.
Auch das Haushaltsproblem könnte gelöst werden. Zumal schon EU-Mittel für Beitrittskandidaten fließen. „Für Schottland könnte das höchst hilfreich sein“, sagt Weidenfeld.
„Weniger kooperativ wird die EU im Umgang mit Großbritannien als Ganzes sein“, glaubt er. Wenn sie Großbritannien zu viele Zugeständnisse macht, riskiert sie einen Dominoeffekt. Weitere Länder könnten austreten wollen.

Wird Schottland auch ohne positive Zeichen der EU ein Referendum forcieren?

Großbritannienexperte Sturm geht davon aus, dass die Schotten auch unabhängig von einem EU-Beitritt die Loslösung vom Königreich forcieren werden. „Es geht um eine Identitätsfrage und um Demokratie – und nicht nur um Ökonomisches“, sagt er. „Natürlich wäre es für Schottland einfacher, innerhalb der EU ein unabhängiges Land zu sein.“ Wenn das nicht gehe, werde Schottland Abkommen mit der EU schließen, die den Zugang zum Binnenmarkt ermöglichen, schätzt er.

Ob mit oder ohne EU-Beitritt – Schottland wird ein weiteres Referendum anstreben. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die Mehrheit der Schotten für die Nationalbewegung stimmt ist deutlich höher im Vergleich zum Referendum von vor zwei Jahren. Insbesondere wenn die EU die Tür für Schottland offen hält.

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