Ein Speedboot mit zehn Seeräubern rast vor der Küste von Nigeria auf einen Hochsee-Schlepper zu, die maskierten Männer feuern mit Gewehren auf das Schiff. Dessen Crew verbarrikadiert sich im Innern und muss hilflos miterleben, wie die Räuber den Schlepper plündern und die Navigationsanlage zerstören – eine von 16 Piraten-Attacken, die weltweit in diesem Jahr bereits gemeldet worden sind. Bei diesem Angriff am 15. Januar 2016 kam die Besatzung mit heiler Haut davon. Das war bei den insgesamt 246 Überfällen im vergangenen Jahr anders: Ein Seemann starb, 14 weitere wurden teils schwer verletzt.
Die Seeräuberei sei nach wie vor eine große Bedrohung für die Schifffahrt, warnt der Verband Deutscher Reeder (VDR) in Hamburg. Es sei fatal, wenn die Wachsamkeit bei dieser Form der Kriminalität nachlasse, nur, weil die Piraterie vor Somalia inzwischen erfolgreich eingedämmt worden ist. „Die Bedrohung am Horn von Afrika gleicht einem Schwelbrand: Die Präsenz der Marinestreitkräfte im Golf von Aden und ihre Luftüberwachung, kombiniert mit den Schutzmaßnahmen der Reeder, nimmt den Verbrechern in Somalia erfolgreich den Sauerstoff“, stellt Ralf Nagel, Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des VDR, fest. „Sobald dieser Schutz nachlassen sollte und somit frische Luft an den Brandherd gerät, werden die Flammen schnell wieder auflodern.“
Wirtschaftszweig Piraterie
Anlass für die Warnung der deutschen Reeder ist der Piraterie-Bericht des Internationalen Schifffahrtsbüros (IMB), der für 2015 im Hochrisiko-Gebiet vor Somalia keine neuen Angriffe mehr auflistet. Das IMB, die Abteilung für Kriminalität auf See der Internationalen Handelskammer mit Sitz in London, registriert jede Piratenaktivität auf der Welt. Unter den Meldungen sind die Ortsbezeichnungen „Somalia“ und „Horn von Afrika“ nicht mehr vertreten. Entlang dieser wichtigen Seehandelsroute, die jährlich von 22.000 Schiffen genutzt wird, wurden 2015 nur noch zwei Überfälle in Häfen gemeldet: am 8. Juni auf einen Frachter in Mosambik und am 27. Juni auf einen Tanker in Mombasa. Mehr ist im gesamten Jahr nicht mehr zu finden auf der früher mit roten Symbolen für erfolgreiche Kaperungen gespickten Piratenkarte des IMB.
Im November 2008 hatte die deutsche Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“ im Golf von Aden sogar scharf schießen müssen, um einen Piratenangriff auf das Kreuzfahrtschiff MS „Astor“ abzuwehren. 2010 befanden sich insgesamt 49 Frachter und Tanker mit 1181 Seeleuten in der Gewalt der somalischen Seeräuber. Angriffe und Geiselhaft überlebten Dutzende Besatzungsmitglieder nicht. Die gezahlten Lösegelder stiegen auf 4,5 Millionen Euro pro Schiff; den wirtschaftlichen Schaden bezifferten Experten auf rund 5,3 Milliarden Euro pro Jahr.
Die Seeräuberei war in Somalia seit 2007/2008 zu einem regelrechten Wirtschaftszweig geworden; im Schatten dieser Kriminalität florierte ein breites Dienstleistungsgewerbe. Die Kombination aus Kriegsschiffen vor Ort, privaten Wachmannschaften auf Frachtern und einer verbesserten internationalen Zusammenarbeit hat inzwischen gewirkt. Die Marineoperationen haben Hunderte Seeräuber getötet oder ins Gefängnis gebracht; ungezählte weitere Somalis ertranken beim Untergang ihrer kleinen Boote. Dazu kommt der bessere Schutz der Handelsschiffe: Die Reedereien rüsteten sie unter anderem mit Stacheldraht an der Reling, Wasser- und Lärmkanonen sowie Schutzräumen aus, in die die Besatzung im Notfall flüchten kann und von denen aus die Schiffsmaschine gestoppt werden kann.