Serie Globalisierung "Amerika braucht einen Marshallplan"

Der New Yorker Politologe und Politikberater Ian Bremmer über die Wachstumsprobleme der USA, eine multipolare Welt und über die deutsche Mitschuld an der Euro-Krise.

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Ian Bremmer, Politologe und Politikberater, im Interview mit der WirtschaftsWoche Quelle: Dirk Eusterbrock für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Bremmer, Europa und Amerika stecken in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise – ist das der endgültige Niedergang des Westens?

Ian Bremmer: Es ist das Ende der globalen westlichen Dominanz, das Ende des amerikanischen Zeitalters. Amerika kann sich die globale Führungsrolle nicht mehr leisten, weil es von ihr nicht mehr profitiert.

Weil das globale Macht- und Kraftzentrum längst nach Asien gerückt ist?

Amerika hat in den vergangenen Jahrzehnten die Globalisierung vorangetrieben – mit der Folge, dass unzählige Jobs von Amerika nach Asien abgewandert sind. Die Amerikaner spielten die globale Weltpolizei, waren der Helfer in der Not überall auf der Welt. Was haben die Kriege in Afghanistan und Irak den Amerikanern gebracht? Sie haben ein Milliardenloch in den Haushalt gerissen. Damit ist Schluss.

Meldet sich die Supermacht Amerika nicht vielmehr ab, weil sie nicht mehr mithalten kann mit den aufsteigenden Schwellenländern?

Das ökonomische Zentrum der Welt rückt zweifelsohne nach Asien. Natürlich ist Chinas Aufstieg der Grund dafür, warum Amerika seine internationale Führungsrolle nicht mehr wahrnimmt. Eine globale Machtverschiebung nach China sehe ich aber nicht.

Von der Taube zum Falken
Irak-KriegObama war stets ein Gegner der Irak-Invasion, und im Wahkampf 2008 versprach er, den Krieg zu beenden. Er hielt Wort: Ende 2011 zogen die letzten US-Kampftruppen aus dem Irak ab.  Quelle: dpa
Afghanistan-KriegNachdem er noch einmal die Truppenanzahl verstärkt hatte, legte Obama erstmals einen Plan für das Ende des Afghanistan-Kriegs vor: Bis zum Jahr 2014 sollen US-Kampftruppen das Land am Hindukusch verlassen haben. Quelle: dapd
Kampf gegen den TerrorMit ähnlicher Härte wie Vorgänger George W. Bush geht Obama gegen Al-Kaida vor: Durch Drohnen-Attacken und Kommandoaktionen in Afghanistan, Pakistan und im Jemen wurde die Führungsstruktur des Terrornetzwerks geschwächt. Obamas Devise: Mit Al-Kaida kann man nicht verhandeln. Quelle: AP
Osama bin LadenEs ist der größte außenpolitische Erfolg des US-Präsidenten: Im Mai spürten ein Spezialkommando der US-Armee den Al-Kaida-Chef in Pakistan auf und tötete den Staatsfeind Nummer eins. Obama ordnete den riskanten Einsatz persönlich an, gegen den Rat seiner engsten Berater. Quelle: dapd
GuantanamoZwar beendete Obama kurz nach seiner Amtsübernahme wie versprochen die Folter als Verhörmethode der CIA und stoppte sowohl die Entführungen von Terrorverdächtigen aus anderen Ländern als auch die geheimen Gefängnisse des Geheidienstes. Doch ein Wahlversprechen ist noch immer offen: Der Präsident schaffte es nicht, das Gefangenenlager Guantanamo zu schließen. Oder er wollte es nicht. Quelle: dapd
Iran-KonfliktObama spart nicht mit kräftiger Rethorik, wenn es darum geht, den Iran vor dem mutmaßlichen Bau einer Atombombe zu warnen. Doch Teheran setzt sein Programm unbeirrt fort – und die US-Regierung muss zuschauen. Cyber-Attacken mit dem Computervirus Stuxnet, das aus US-Laboren stammen soll, immerhin haben Irans Atomanlagen offenbar empfindlich geschädigt.  Quelle: dpa
Nahost-Politik                               Die politischen Gegner werfen Obama vor, sich im Iran-Konflikt nicht klar genug um die Sorgen Israels zu kümmern. Überhaupt ist das Verhältnis zwischen dem US-Präsidenten und dem jüdischen Staat nicht unkompliziert: Der Amerikaner und Israels Premier verstehen sich nicht, die Lage im Nahostkonflikt hat sich in Obamas erster Amtszeit nicht gerade verbessert.   Quelle: Reuters

Warum nicht?

China wird in absehbarer Zeit nicht Amerikas Rolle als globales politisches Machtzentrum wahrnehmen können, weil es zu instabil ist. Es hat enorme wirtschaftliche und politische Herausforderungen zu meistern. Die Staatsunternehmen, das Bankensystem, das Rechtswesen, das Sozial- und Gesundheitssystem müssen reformiert werden. Das sind alles Veränderungen mit enormer innenpolitischer Sprengkraft. Ich wünsche mir, dass China damit erfolgreich sein wird, aber ich bin mir dessen nicht sicher.

Amerika hängt doch jetzt schon am ökonomischen Tropf der Chinesen.

Amerika hat den „Fluch des sicheren Hafens“. Es kann sich Geld von anderen Ländern leihen, weil diese in Amerika immer noch einen sicheren Hafen sehen. Solange diese Länder das tun, gibt es keine fiskalische Klippe, über die Amerika in den totalen wirtschaftlichen Abgrund stürzt. Die Notenbank kann also weiter Geld drucken und die Zinsen niedrig halten. Es fehlt die absolute Dringlichkeit, notwendige wirtschaftliche und politische Reformen einzuleiten. Und Amerika gilt auch deshalb als sicherer Hafen, weil die Lage in Europa und Japan noch schlimmer ist. Den Amerikanern fehlt schlicht der Zwang zum Handeln.

Abstieg des Westens?

Fabers düstere Prognose für China
Marc Faber Quelle: Andreas Chudowski für WirtschaftsWoche
Rio de Janeiro Quelle: dapd
Kupfermine in Chile Quelle: IVAN ALVARADO
Taipeh 101 Quelle: dpa/dpaweb
Casino in Macau Quelle: REUTERS
Louis Vuitton in Shanghai Quelle: AP
Transformator Quelle: REUTERS

Wie lange kann das noch gut gehen? Welche Wettbewerbsvorteile hat der Westen noch gegenüber den Schwellenländern?

Einen totalen wirtschaftlichen Abstieg des Westens wird es nicht geben. Wir dominieren in vielen wirtschaftlichen Bereichen: etwa in der Informations-, Bio- und Nanotechnologie. Amerika verfügt über enorme Energie- und Agrarressourcen. Wir haben Top-Universitäten, sonst würden nicht immer mehr Chinesen unsere Universitäten stürmen. Großen Konzernen geht es hervorragend. Aber die Masse der Amerikaner profitiert hiervon nicht. Amerika hat ein strukturelles Problem.

Welches?

Die schmutzige Wahrheit des Kapitalismus ist, dass viele Unternehmen keine freie Marktwirtschaft wollen, sondern Monopole. Der Staat muss aber dafür sorgen, dass kreative Zerstörung möglich ist, damit wir wettbewerbsfähig bleiben. Das ist in vielen westlichen Staaten nicht der Fall. Schauen Sie sich die Banken an oder die amerikanische Autoindustrie. Sie hat strukturelle Reformen in den USA erfolgreich verhindert. Dann kam die Finanzkrise. Unternehmen wie BMW kamen besser durch die Krise als amerikanische. Wir haben Reformen verschlafen und staatliche Privilegien genossen. Ohne die Hilfe der Regierung wäre die US-Autoindustrie wohl längst untergegangen.

Sind staatskapitalistische Systeme wie die in China unserem liberal-demokratischen Werte- und Wirtschaftssystem überlegen?

Nein, der Staat sollte private Unternehmen nicht übernehmen, aber er muss gleiche Bedingungen für alle Marktteilnehmer schaffen. In dieser neuen Welt werden Länder und Unternehmen überleben, die sich verändern und auf die neuen globalen Bedingungen einstellen.

Staatswirtschaften wie China reagieren darauf offenbar schneller als wir.

Der chinesische Staatskapitalismus hat das Land tatsächlich extrem vorangebracht in den vergangenen drei Jahrzehnten. Trotzdem ist er dem westlichen System nicht überlegen. Solange China die billigen Arbeitskräfte hat, werden sie uns überlegen sein. Dieser Vorteil ist endlich. Fällt er weg – und das ist nur eine Frage der Zeit –, dann fällt der Staatskapitalismus auseinander. Die chinesische Regierung weiß das nur zu gut. Sie muss den Konsum im eigenen Land und Reformen vorantreiben, um langfristig erfolgreich zu sein.

Wenn Amerika als globales Machtzentrum ausfällt und China nicht in der Lage ist, diese Rolle zu übernehmen – wer füllt dann dieses Machtvakuum?

Das ist das Dilemma, in dem wir stecken: Niemand übernimmt diese Rolle. Es gibt keine globale Führung. Ich nenne das die G-Zero-Welt – eine Welt, in der kein Land global führt. Jedes Land konzentriert sich auf sich selbst und seine Nachbarn.

Allgemeine Führungslosigkeit

Mit welchen Folgen?

Die Welt wird volatiler, multipolarer, risikoreicher. Es wird mehr Protektionismus geben, es wird häufiger zu militärischen Konflikten kommen. Schauen Sie in den Mittleren Osten, auf Syrien: Die Amerikaner halten sich zurück, die Chinesen sowieso.

Wie agieren Regierungen angesichts der allgemeinen Führungslosigkeit?

Die Antworten der Länder sind unterschiedlich: Regionen schließen sich aus ökonomischen oder politischen Gründen zusammen – je nach Interessenlage. Japan, Taiwan oder Myanmar fürchten sich vor zu viel Macht der Chinesen in Asien. Sie gehen Bündnisse mit dem Westen ein. Die Chinesen machen mit vielen Ländern gute Geschäfte, haben aber kaum Verbündete, die ihre Werte teilen. Auch deshalb wird China nicht die Rolle einer neuen globalen Superpower übernehmen.

Kann die Politik diese multipolare Welt überhaupt mitgestalten?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir entwickeln internationale Organisationen, die nicht mehr global agieren. Oder wir machen mit sinnlosen Institutionen wie der G8 oder G20 weiter. Nehmen Sie zum Beispiel den Welthandel und den Klimawandel. Die Doha-Runde ist tot. Zu viele Länder mit unterschiedlichen Interessen einigen sich nicht, wie freier Welthandel aussehen soll. Da das Thema zu wichtig ist, schließen die Länder bilaterale und multilaterale Verträge ab – jedes Land nach seinen eigenen Interessen. Es wird also mehr Protektionismus geben. Das Thema Klimawandel ist offenbar nicht dringlich genug: Da geht es weiter mit den sinnlosen globalen Runden, kein Land übernimmt eine führende Rolle. Es wird zu keiner Einigung kommen, bevor das Problem nicht noch viel schlimmer wird.

Obamas Gesundheitsreform bestätigt

Ist unser liberal-demokratisches Werte- und Demokratiemodell gescheitert?

Der amerikanische Exzeptionalismus hat in der Tat ziemlich gelitten in den vergangenen zehn Jahren. Schauen Sie sich den Folterskandal in Abu Graib im Irak an. Wie konnten Finanzskandale wie Enron, Worldcom, Lehman Brothers und jüngst Madoff in den USA passieren? Wir leben offenbar unsere eigenen Werte nicht mehr. Auf der anderen Seite: Stellen Sie sich einmal Wikileaks in China vor. Das würde wohl zu einer militärischen Reaktion der Chinesen führen.

Wie wird sich der Aufstieg der Schwellenländer auf unseren Wohlstand auswirken?

Die Schere zwischen Arm und Reich im Westen wird weiter auseinandergehen. Eine Minderheit in Amerika wird immer wohlhabender, eine Mehrheit wird an Wohlstand verlieren. Noch haben wir in Amerika nicht die Situation wie in Tunesien, wo sich die Leute aus Protest selbst anzünden. Aber Amerikas untere Bevölkerungsschichten sind nicht in der Lage, mit der Entwicklung in der globalen Welt mitzuhalten – ihnen fehlen die Möglichkeiten.

Ist es zu spät für die Rettung des Euros?

Die Unternehmer der Globalisierung
America MovilCarlos Slim: Der GünstlingDass der Mexikaner Carlos Slim zum reichsten Mann der Welt und zum Global Player in der Telekommunikation aufsteigen konnte, hat er der Regierung in Mexico City zu verdanken. Als die staatliche Telefongesellschaft Telmex 1990 privatisiert wurde, bekam sein Konsortium den Zuschlag – zum Schnäppchenpreis von 1,8 Milliarden Dollar. Auch danach konnte er sich auf staatliche Schützenhilfe verlassen: Wettbewerber wurden kaum zugelassen, sogar die Gesprächsgebühren durfte der Telekomunternehmer ungestört erhöhen. Mit den Monopolgewinnen finanzierte der Günstling der Regierenden eine beispiellose Expansion in Mittel- und Südamerika: Bis auf Costa Rica, Venezuela und Bolivien ist America Movil in allen Ländern vertreten. Mit knapp 250 Millionen Kunden gehört das Unternehmen zu den größten Mobilfunkbetreibern weltweit und hat sogar die Deutsche Telekom überholt. Jetzt wagt Slim den Sprung nach Europa. Er hat den Aktionären des holländischen Telekomkonzerns KPN ein Übernahmeangebot für knapp 28 Prozent der Anteile unterbreitet. Auch in Österreich, bei Telekom Austria, will Slim seinen Anteil von derzeit vier Prozent aufstocken. Dass der Mexikaner sich überhaupt nach Europa traut, ist nach Ansicht von Telekom-Chef René Obermann auch die Schuld der europäischen Regulierungsbehörden. Sie hätten mit dem Absenken der Mobilfunkentgelte den Aktien der europäischen Telekom-Konzerne geschadet − und damit Slims Offerten erst ermöglicht. Quelle: dpa
Lakshmi Mittal Quelle: dpa
Fred Curado Quelle: dpa
Terry Gou Quelle: dapd
Ren Zhengfei Quelle: AP
Chung Mong-koo Quelle: REUTERS
Shi Zhengrong Quelle: Pressebild

Braucht Amerika einen Neuanfang mit einem anderen Präsidenten?

Nein. Weder US-Präsident Barack Obama noch sein Herausforderer Mitt Romney haben tatsächlich einen Einfluss auf die Realpolitik in Amerika. Der Kongress und politische Interessengruppen haben das Sagen in Amerika.

Es ist egal, wer Amerika regiert?

Egal ist es nicht, aber in Amerika geben die Wähler Politikern ihre Stimmen, die mehr oder weniger ähnliche Ansichten oder Werte haben – das ist anders als etwa in Schwellenländern, wo ein neuer politischer Anführer tatsächlich das Land reformieren kann. Romney ist ein sehr moderater Republikaner. Er sagt das, was ihm hilft, gewählt zu werden. Genauso hat es doch Obama vor vier Jahren gemacht. Da gibt’s keine radikalen Unterschiede. Wenn Sie mit den Beratern der beiden sprechen, entdecken Sie viele Gemeinsamkeiten.

Wie kann Amerika seine strukturellen Probleme lösen?

Amerika braucht dringend einen Marshallplan, aber dazu ist die politische Klasse Amerikas nicht bereit. Das öffentliche Schulsystem ist schlecht. Strukturelle wirtschaftliche und bildungspolitische Reformen werden nicht eingeleitet. Wer künftig nicht mindestens einen College-Abschluss hat, wird auf dem internationalen Arbeitsmarkt nicht konkurrieren können. Das Problem ist offenbar noch nicht groß genug. Europa hat auch erst gehandelt, als sich die Lage zugespitzt hat.

Wie der Wall-Street-Handel lief

Ist es nicht längst zu spät für eine Rettung des Euro?

Nein. Ich halte eine Bankenunion für eine gute Lösung, um die Probleme in der Euro-Zone in den Griff zu bekommen – es geht doch kein Weg an einer politischen und fiskalischen Union vorbei. Nur wollen das die Deutschen nicht wahrhaben, weil sie dann Souveränität abgeben müssen. Die Deutschen wollten die Griechen doch unbedingt in der Euro-Zone haben. Sie haben Griechenland Geld zu Bedingungen geliehen, die nicht der wirtschaftlichen Realität entsprachen. Warum? Weil sie gierig waren wie alle anderen. Die Deutschen sind genauso verantwortlich für die Euro-Krise wie die Griechen.

Welche Bedeutung wird denn eine Euro-Zone künftig global noch spielen?

Sie wird überleben, weil sie eine freiwillige Union ist, mit gemeinsamen Werten und Interessen. Viele Euro-Länder profitieren von dieser Union. Sie wird als politische und wirtschaftliche Kraft deshalb global eine größere Bedeutung spielen in dieser multipolaren Weltordnung – ob mit oder ohne Griechenland.

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