Stephans Spitzen

Die Welt wird besser, aber kein Paradies

Cora Stephan Politikwissenschaftlerin

Immer mehr Menschen haben Zugang zu sauberem Wasser, immer weniger hungern. Allen Krisen zum Trotz wird die Welt ein besserer Ort. Warum wir das aber nicht zu schätzen wissen. Eine Kolumne.

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Die Welt wird besser, aber kein Paradies Quelle: dpa

2015 war ein furchtbares, ein schreckliches Jahr: Krieg in Syrien, Erdbeben in Nepal, Überschwemmungen in England, „Flüchtlings“-Krise in Deutschland, Terrorattacken in Paris und Israel. Grund genug für finsterste Gedanken. Insbesondere in Deutschland, in dem man sich wieder einmal der Vollbeschäftigung nähert, glaubt man, das eigene Glück nicht verdient zu haben: mindestens am Klimawandel, raunen die Auguren, gehen wir alle zugrunde, wenn uns auch anderes womöglich erspart bleibt.

Was soll uns da der Rat, doch mal ans Positive zu denken?

Versuchen wir es, jetzt erst recht. Denn tatsächlich wird nicht alles immer schlimmer. Ganz im Gegenteil, sogar: auch dieses Jahr ist die Armutsrate der Weltbevölkerung wieder gesunken – von 12,8 Prozent im Jahr 2012 auf 9,6 Prozent 2015. Auch die Zahl der chronisch Unterernährten hat dramatisch abgenommen, trotz wachsender Bevölkerung. Über sauberes Trinkwasser verfügen heute mit 91Prozent mehr Menschen denn je – was allerdings nichts mit dem deutschen Wassersparwahn zu tun hat. Armut betrifft noch immer 702 Millionen Menschen, aber es ist der geringste Prozentsatz seit 200 Jahren, liest man im britischen Independent.

Bewegende Momente in der Politik 2015
Markus Nierths Quelle: dpa
Ausschwitz-Überlebende reicht früherem SS-Mann die HandIm Lüneburger Auschwitz-Prozess kommt es im April zu einer ungewöhnlichen Geste: Eine Überlebende des Konzentrationslagers reicht dem angeklagten früheren SS-Mann Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung. „Ich habe den Nazis vergeben“, sagt Eva Kor. Die 81-Jährige hat mit ihrer Zwillingsschwester grausame medizinische Experimente in Auschwitz überlebt, die übrigen Familienmitglieder starben dort. Kor sagt vor Gericht auch: „Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei.“ Wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen wird Gröning zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Er bekennt sich zu seiner moralischen Mitschuld. In Auschwitz ermordete das nationalsozialistische Regime im Zweiten Weltkrieg mehr als eine Million Menschen, weit überwiegend Juden. Quelle: dpa
Hilfloser Lucke, lächelnde PetryRechte Stammtischparolen und Buh-Rufe machen den Parteitag der Alternative für Deutschland Anfang Juli in Essen zu einem etwas schrillen Spektakel. Parteigründer Bernd Lucke muss hilflos zusehen, wie seine Rivalin Frauke Petry kalt lächelnd an ihm vorbeizieht. Ihr neuer Lebensgefährte, der AfD-Landesvorsitzende Marcus Pretzell, erntet stürmischen Applaus, als er sagt, die AfD sei eben auch eine „Pegida-Partei“. Zum Schluss steht kein Stein mehr auf dem anderen. Lucke und seine Mitstreiter aus dem wirtschaftsliberalen Flügel empören sich über den „Rechtsruck“ der Partei. Sie verlassen die AfD und gründen die Partei Alfa. Quelle: dpa
Merkel und das weinende FlüchtlingsmädchenBundeskanzlerin Angela Merkel erlebt Mitte Juli in Rostock, was passiert, wenn Politik auf Individuen trifft. Bei einem „Bürgerdialog“ in einer Schule trifft sie das Flüchtlingsmädchen Reem. Merkel erklärt, dass Deutschland nicht alle Asylbewerber aufnehmen kann. Daraufhin bricht die 14-Jährige in Tränen aus. „Ach komm“, sagt Merkel und will Reem trösten. Dabei wirkt Merkel unbeholfen. „Du hast das doch prima gemacht“, sagt sie, was der Moderator mit einer spitzen Bemerkung quittiert. „Ich weiß, dass das eine belastende Situation ist - aber trotzdem möchte ich sie einmal streicheln“, herrscht die Kanzlerin den Mann an. Im Netz wird die Kanzlerin als eiskalt beschimpft. Doch „streicheln“ ist ein ungewöhnliches Wort für eine Frau, die als eiskalt gilt. Quelle: dpa
Flüchtlinge dürfen kommenFlüchtlinge werden in Ungarn schlecht versorgt, sie wollen nach Österreich oder Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel befürchtet, dass es zu einer Tragödie kommt, wenn die ungarische Polizei mit den Tausenden, zum Teil verzweifelten Menschen nicht mehr zurechtkommt. Gemeinsam mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann entscheidet sie am 5. September: Deutschland und Österreich nehmen in Absprache mit der ungarischen Regierung über eine Ausnahmeregelung Flüchtlinge auf. Demnach dürfen sie ohne bürokratische Hürden und Kontrollen einreisen. Bei ihrer Ankunft in Deutschland werden sie von vielen Bürgern bejubelt, Freudentränen fließen. CSU-Chef Horst Seehofer fühlt sich übergangen und warnt vor Überforderung. Quelle: dpa
Eine erfundene Zeugin im NSU-ProzessNach zweieinhalb Jahren und mehr als 230 Verhandlungstagen bemerkt Ralph Willms, Nebenklage-Anwalt im Münchner NSU-Prozess, dass er Opfer einer Täuschung geworden ist. Am 2. Oktober stellt sich heraus, dass die Nebenklägerin „Meral Keskin“ erfunden ist. Das Gericht hatte sie als vermeintliches Opfer des Bombenanschlags an der Kölner Keupstraße zum NSU-Prozess zugelassen. Dass „Keskin“ tatsächlich gar nicht existiert, fiel erst auf, als das Gericht sie mehrfach vergeblich als Zeugin geladen hatte. Hauptangeklagte im NSU-Prozess ist die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr Mittäterschaft bei zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen vor. Quelle: dpa
Messerattacke gegen Henriette Reker in KölnEin Attentat schockt das Land: In Köln sticht am 17. Oktober ein 44-Jähriger die parteilose OB-Kandidatin Henriette Reker an einem Wahlkampfstand nieder. Die 58-Jährige geht mit einer schweren Verletzung am Hals zu Boden, eine Notoperation rettet ihr Leben. Am Tag nach dem wohl fremdenfeindlich motivierten Anschlag wählen die Kölner die bisherige - auch für Flüchtlingspolitik zuständige - Sozialdezernentin mit 52,7 Prozent zur Oberbürgermeisterin der viertgrößten deutschen Stadt. Reker - zunächst im künstlichen Koma - nimmt die Wahl am 22. Oktober am Krankenbett an. Am 20. November tritt sie ihr Amt an und stellt klar: Sie lässt sich nicht einschüchtern. Quelle: dpa

Krankheiten wie Malaria, Aids und Ebola können mittlerweile erfolgreich bekämpft werden, Kinderlähmung ist so gut wie ausgerottet, die Kindersterblichkeit sinkt immer weiter – ebenso die weltweite Fruchtbarkeitsrate, und das bedeutet, dass weniger Frauen durch Schwangerschaft oder Geburt sterben. Die Lebenserwartung ist fast überall gestiegen – und obzwar die täglichen Schlagzeilen uns anderes vermuten lässt: immer weniger Menschen sterben durch zivile Gewaltverbrechen. Wohl genau deshalb wächst unsere Erschütterung über jeden einzelnen Fall. Unsere Vorfahren noch vor zweihundert Jahren waren weit abgehärteter.

Selbst dem, was uns evident erscheint, nämlich der Zunahme der Opfer von Krieg und Bürgerkrieg, widerspricht die Statistik: Die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg ist trotz zahlreicher bewaffneter Auseinandersetzungen die friedlichste, die die Menschheit wohl je erlebt hat. Selbst im 20. Jahrhundert starben trotz der Weltkriege nur 3 Prozent im und am Krieg. Der kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker behauptet: „Gewalt ist im Laufe der Geschichte immer weiter zurückgegangen. Und zwar alle möglichen Formen der Gewalt: Kriege, Morde, Folter, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Diese Dinge gibt es natürlich noch immer. Aber wir dürften heute in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert.“

Er ist mit dieser These nicht gerade auf wohlwollende Zustimmung gestoßen. Solche Statistik steht gegen alles, was wir zu sehen und zu erleben glauben, insbesondere in Deutschland: Krieg und Bürgerkrieg in anderen Ländern rücken näher, religiöser und kultureller Zwist reist mit Migranten ins Land ein, die ihre Konflikte mitbringen. Wir schicken wieder Soldaten in andere Länder, unsere Nachbarn trauen unseren guten Absichten nicht, kurz: unsere stabile Nachkriegsidylle scheint zu erodieren. Das Europa der Europäischen Union, das doch Frieden garantieren sollte, lässt im Gegenteil nationalstaatlichen Egoismus neu erblühen, selbst Deutschland, dessen Regierende schon die deutsche Flagge als Ausdruck nationalistischen Wahns empfinden, geht (etwa bei Flüchtlingspolitik und Energie“wende“) seine Sonderwege.

Arabellion führte nicht zu Demokratie und Stabilität

Wir trauen unseren Empfindungen mehr als den „kalten Zahlen“ irgendeiner Statistik. Und das ist noch nicht einmal völlig falsch. Denn alles, auch die guten Nachrichten, hat seine Kehrseite.

Was war das für ein Glück, als der eiserne Vorhang fiel und der eisige Frieden des kalten Krieges in einen warmen Luftstrom geriet! Das Offene zog indes neue Fröste der Freiheit nach sich: die Sowjetunion hatte verklammert, was nun mit Gewalt auseinanderstrebte. Jugoslawien brach entzwei, aus dem Chaos entstanden Nationalstaaten, von den meisten als möglichst ethnisch rein gewünscht.

Was soll in Syrien mit militärischen Mitteln erzwungen werden? Wie lautet die Exit-Strategie für die Bundeswehr? Es gibt viele offene Fragen zum deutschen Kriegseinsatz. Und keinerlei Debatte – leider. Eine Kolumne.
von Cora Stephan

Die Westdeutschen, die bislang in einer von anderen geschützten weltpolitischen Nische friedlich an ihrem Wohlstand gearbeitet hatten, mussten begreifen, dass „Nie wieder Krieg“ keine Parole war, die die Friedhofsruhe des kalten Krieges überdauerte. Als Saddam Hussein 1991 militärisch daran gehindert werden sollte, mit seiner Annexion von Kuweit völkerrechtswidrig Staatsgrenzen zu verändern, glaubte sich eine panische Friedensbewegung am Vorabend des Dritten Weltkriegs. Man hatte noch nicht begriffen, dass der Wegfall der eisernen Klammer begrenzte bewaffnete Konflikte wieder ermöglicht hatte.

Wo Flüchtlinge in Deutschland wohnen
Autobahnmeisterei Quelle: dpa
Deutschlands höchstgelegene Flüchtlingsunterkunft befindet sich im Alpenvorland Quelle: dpa
Container Quelle: dpa
Bischofswohnung und Priesterseminar Quelle: dpa
Eissporthalle Quelle: Screenshot
Ehemaliger Nachtclub als Flüchtlingsunterkunft Quelle: dpa
Jugendherberge Quelle: dpa

Dass Gutes wie Gutgemeintes nicht immer Gutes bewirkt, gehört seither zur Naherfahrung: der Sturz Saddam Husseins, ein paar Kriege später, entfernte wieder eine Klammer, die gewaltsam das Auseinanderstrebende zusammengehalten hatte. Die im Westen in Verkennung der Unterschiede begeistert begrüßte „Arabellion“ führte nicht zu Demokratie und Stabilität, „Menschenrechtsinterventionen“ wie die gegen das Regime von Libyens Gaddafi hatten lediglich Destabilisierung und Bürgerkrieg zur Folge. Wenn es gut geht, wird sich der Nahe Osten ähnlich wie Ex-Jugoslawien neu ordnen und das Chaos aus Unterdrückung und Bürgerkrieg hinter sich lassen können, das seine Wurzeln in der kurzsichtigen und nur auf die eigenen Interessen orientierten britischen und französischen Mandatspolitik nach dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung des Osmanischen Reichs hat. Doch das wird länger dauern und womöglich blutiger sein.

So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern

Auch die massenhafte Migration, die insbesondere das beschauliche, (noch) wohlgeordnete und wohlhabende Deutschland zum Ziel hat, ist nicht, wie wir es hierzulande gern sehen, einzig und allein die menschlich verständliche Reaktion auf Krieg, Armut und Leid. Insbesondere die Einwanderer der ersten großen Welle hatten und haben immerhin genug Geld, um die Menschenschmuggler zu bezahlen, die an ihrem üblen Geschäft Unsummen verdient haben. Sie sind gekommen, weil sie, anders als die völlig Verelendeten, bereits imstande sind, mehr als das bloß Notwendige vom Leben zu erwarten. Sie wollen ein besseres Leben.

Nein, es gibt keinen Grund, die Fortschritte zu bezweifeln, die die Menschheit insgesamt gemacht hat. Wir sollten uns höchstens die Naivität verkneifen, daraus auf künftige stabile paradiesische Zustände zu schließen. Fortschritt erzeugt Unruhe und Bewegung. Und wir Europäer liegen nicht ganz falsch mit unserer Ahnung, dass wir diesmal nicht die hauptsächlichen Nutznießer dieser Veränderungen sein werden.

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