Es ist immer wieder verblüffend: hierzulande, in der Öffentlichkeit aber auch vor dem einen oder anderen Richterstuhl, scheint man der Meinung zu sein, Rechtsstaat und Demokratie stünden selbst dann im Weg, wenn es darum geht, gegen undemokratische Bestrebungen und fremde Einmischung in deutsche Belange vorzugehen. Offenbar glaubt man, Politik bestehe darin, stets ein freundliches Gesicht zu zeigen und unschöne Bilder zu vermeiden. Das ist jedoch nichts anderes als politische Verantwortungslosigkeit.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Wer Verschwörungstheorien liebt, könnte noch auf ganz andere Ideen kommen. Öffentlich kritisiert man noch den türkischen Wahlkampf in Deutschland. Intern aber werden längst andere Spiele gespielt.
Wer sich das unter der Ägide von Migrationsstaatsministerin Aydan Özoguz bei der Friedrich-Ebert-Stiftung entstandene „Impulspapier“ zur „Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft“ näher anschaut, wird feststellen, dass noch ganz andere Bastionen geschleift werden sollen. Man wünscht dort eine Grundgesetzänderung, nämlich das Einfügen eines Staatsziels, in dem es heißt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland.“ Kommt das nicht allen entgegen, die statt „deutsches Volk“ lieber von jenen, „die schon länger hier leben“ sprechen? Um diesen Wunsch möglichst schnell in Erfüllung gehen zu lassen, wird zugleich die Änderung des Wahlrechts angestrebt – von Abgeordneten der SPD, der Grünen, und der Piraten als Antrag jüngst in den Düsseldorfer Landtag eingebracht. Danach sollen auch Migranten aus Ländern, die nicht der EU angehören, nach 5 Jahren Ansässigkeit an Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen zu müssen. Ob man damit auf das Wählerpotential unter den Türken schielt, die in Deutschland mehrheitlich links wählen?
Der Vorschlag ist nicht nur verfassungswidrig - „das Wahlrecht, mit dem das Volk die Staatsgewalt ausübt, setzt nach der Konzeption des Grundgesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit voraus“ –, er bedeutet auch eine weitere Entwertung der deutschen Staatsangehörigkeit, begonnen 2000 mit der Ermöglichung der doppelten Staatsbürgerschaft. Für Türken hat sich der Doppelpass als Falle erweisen. Zwar ist über die Hintergründe der Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel in der Türkei noch nichts öffentlich bekannt, aber sie gibt der Vermutung Nahrung, dass im Zweifelsfall der deutsche Pass ein Lappen ohne Wert ist.
Es war immer schon ein Fehler, mit muslimisch-türkischen Organisationen zusammenzuarbeiten, die durch nichts zur Vertretung aller Türken in Deutschland legitimiert sind, wie die Ditib und andere offiziösen Vereine. Den eher säkular eingestellten Türken oder Deutschen mit entsprechendem „Hintergrund“ rückt nun in der neuen Heimat nahe, wovor sie womöglich einst das Weite gesucht haben. Damit werden nicht nur deutsche und demokratische Werte verraten, sondern auch die Interessen vieler anderer, die sich mit Erdogans autoritärem Regime nicht identifizieren. Selbst die nicht unbedingt staatsferne türkische Gemeinde in Deutschland plant mittlerweile den Aufstand.
Die deutsche Politik aber schiebt die Verantwortung mal hierhin, mal dorthin. Lässt man sich tatsächlich von Erdogan erpressen? Dann sollte man endlich beginnen, sich dagegen zu wehren, statt an der Unterwerfung mitzuarbeiten.