Tiefer Schock und Ratslosigkeit. Nachdem das Unterhaus dem britischen Premier David Cameron Donnerstagnacht mit der Ablehnung eines Militärschlags gegen Syrien eine demütigende Niederlage beibrachte, herrscht in Großbritannien Krisenstimmung. Innen- und außenpolitisch kann das Ereignis als Zäsur gelten. Großbritannien wird seine außenpolitische Rolle neu überdenken müssen, in der neueren Geschichte gibt es kein anderes Beispiel dafür, dass ein Premier in der Frage eines kriegerischen Einsatzes niedergestimmt worden wäre. Britischen Medien zufolge war es das erste Mal seit 1782, dass ein Premier eine Abstimmung zu über einem Krieg verlor.
Cameron kann damit international nicht länger als ein politisches Schwergewicht gelten, er hat im eigenen Land die Kontrolle über die Außen- und Sicherheitspolitik verloren. Kommentatoren bezeichneten das Abstimmungsergebnis als "größten außenpolitischen Tiefschlag seit der Suez-Krise im Jahr 1956". Ein gedrückt wirkender Finanzminister George Osborne erklärte am Freitagmorgen in der BBC, er hoffe, dass Großbritannien sich künftig nicht von der internationalen Bühne verabschieden und den großen weltpolitischen Problemen die kalte Schulter zeigen werde.
Obama braucht immer noch Beweise
Zum ersten Mal seit dem Vietnam-Krieg wird Großbritannien nun militärisch nicht an der Seite seines Verbündeten USA kämpfen. Politiker und Kommentatoren sprechen daher von tiefgreifenden Folgen für die "Special Relationship" Großbritanniens mit den USA. Stets waren die Briten in den letzten Jahren dabei, wenn Amerika in den Krieg zog. In Washington spielte man das Ereignis zunächst herunter und erklärte, die Regierung in London weiterhin konsultieren zu wollen. US-Präsident Barack Obama hat zwar signalisiert, dass er in Syrien nun zu einem Alleingang bereit ist, wird sich aber - so heißt es jedenfalls in London - wohl aus politischen Gründen die Unterstützung Frankreichs und einiger arabischer Staaten sichern wollen. Zudem könnte es sein, dass er nun im US-Kongress stärker unter Druck gerät, Beweise vorzulegen, dass das Assad-Regime tatsächlich für den verheerenden Giftgas-Angriff am 21. August in Siedlungen der syrischen Region Ghuta verantwortlich war.
Auch innenpolitisch wurde David Camerons Autorität schwer beschädigt. "Cam down" - "Cameron am Boden", titelte das Boulevardblatt "The Sun". Auf den Titelseiten der konservativen Blätter "Daily Mail" und "Times" prangte das Wort "Demütigung", der konservative "Daily Telegraph" sprach von einem "Tiefschlag" und erwähnte sogar die Möglichkeit eines innerparteilichen Putsches gegen den Premier. "Mr. Cameron kann das überleben, aber er wird seine Autorität von früher nie wieder zurückgewinnen", kommentierte die Sun. Die Abstimmungsniederlage habe eine tiefgreifende Bedeutung für Camerons restliche Amtszeit, so Adam Boultan, Politikchef des Murdoch-Senders Sky.
Niederlage ist peinlich für Cameron
Der Premier verlor die Abstimmung mit 285 zu 272 Stimmen, verheerend für ihn: 44 Mitglieder der eigenen Partei stimmten gegen ihn oder enthielten sich der Stimme, zum Teil waren diese identisch mit den Europa-Rebellen, die ihm schon in der Vergangenheit in den Rücken gefallen waren. Auch 22 Abgeordnete des liberaldemokratischen Koalitionspartners versagten ihm die Gefolgschaft. Peinlich für Cameron außerdem, dass einige Mitglieder seines Kabinetts - darunter Entwicklungsministerin Justine Greening - die Abstimmung verpassten, weil sie die Glocke die zur Stimmabgabe rief, überhörten.
Die Kritik an Cameron entzündete sich zum Teil daran, dass er überhastet und taktisch schlecht agiert habe. Der Regierungschef hatte seinen Urlaub in Cornwall abgebrochen und die britischen Abgeordneten extra für die Abstimmung am Donnerstag verfrüht aus der Sommerpause geholt. Er investierte sein gesamtes außenpolitisches Kapital indem er erklärte, dass der Einsatz von Giftgas nicht ungesühnt bleiben dürfe. Außenminister William Hague erklärte sogar, er halte einen Militäreinsatz in Syrien notfalls auch ohne UN-Mandat für gerechtfertigt. Klüger wäre es wohl gewesen, Cameron hätte zunächst einmal den Bericht der UN-Waffeninspekteure abgewartet.
"Bushs Pudel"
Verantwortlich für das Debakel ist nämlich vor allem der lange Schatten des Irak-Krieges. Seit sich die vom britischen Ex-Premier Tony Blair vorgelegten Beweise über die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak als falsch erwiesen, herrscht in Großbritannien eine tiefsitzende Skepsis was die Rechtsgrundlage von Militärschlägen im Ausland angeht. Blair wurde den politischen Makel, er sei eigentlich nur "Bushs Pudel" nie los. Ihm wird noch heute vorgeworfen, er sei dem damaligen US-Präsident George W. Bush zu bereitwillig in den Krieg gefolgt. Desillusioniert sind die Briten zudem mit den politischen Folgen der Irak- und Afghanistan-Kriege.
Auch die Bevölkerung ist gegen einen militärischen Einsatz
Eigentlich hätte Cameron das Parlament gar nicht abstimmen lassen müssen, verfassungsrechtlich war dies jedenfalls nicht notwendig, denn aufgrund des "Royal Prerogative" kann ein britischer Regierungschef auch ohne die Zustimmung des Parlamentes militärische Einsätze befehlen. Insofern war hatte die Entscheidung nur symbolische Bedeutung, aber politisch machte sie insofern Sinn, als die britische Öffentlichkeit vom Trauma des Irak-Krieges gezeichnet eine wachsende Skepsis gegen einen Militärschlag in Syrien demonstrierte. Umfragen zeigen, dass bis zu Dreiviertel der Bevölkerung dagegen sind. Politiker, Kommentatoren und sogar das Oberhaupt der Anglikanischen Kirche fragten immer lauter nach der Rechtfertigung, den Zielen und Folgen einer möglichen Militäroperation. Es war daher nur folgerichtig, dass Cameron nach der Abstimmungsniederlage erklärte: "Mir ist klar, dass das britische Volk keine britische Militäraktion will. Ich habe das verstanden und werde mich entsprechend verhalten."
Labour-Chef Ed Miliband kann als politischer Gewinner der verfahrenen Lage gelten. Nachdem er zunächst den Eindruck erweckt hatte, er werde - ganz staatsmännisch - im Hinblick auf die Syrien-Frage Seite an Seite mit der Regierung stehen, begann er zurück zu rudern und dann Bedingungen für die Unterstützung der Opposition zu stellen. So verlangte er plötzlich "zwingende Beweise" für eine Verantwortung des Assad-Regimes für den Giftgaseinsatz und forderte dann unter anderem, erst wenn der Bericht der UN-Experten vorliege, solle endgültig über einen Militäreinsatz abgestimmt werden. Cameron knickte ein: So kam es dazu, dass das britische Unterhaus am Donnerstagabend zunächst ein militärisches Eingreifen lediglich prinzipiell absegnen und den konkreten Befehl zum Einsatz erst nächste Woche gesondert sanktionieren sollte. Das ist nun obsolet. Auf Regierungsseite allerdings wird man Labour nun einen Teil der Schuld zuweisen, wenn Präsident Assad neue Gräueltaten gegen seine eigenen Landsleute verüben sollte.
Besonders tragisch ist, dass die BBC noch am Donnerstagabend einen Bericht über einen weiteren Angriff gegen syrische Zivilisten ausstrahlte, bei dem offenbar eine Napalm ähnliche Waffe auf einen Schulhof voller Teenager abgefeuert worden war. Die Bilder der Opfer mit ihren schweren Verbrennungen folgten unmittelbar auf die Nachricht auf die Blockade des britischen Militärschlages durch das Unterhaus.