An Beschreibungen der Moderne mangelt es nicht. Sie wird von Soziologen gern auf die die Begriffe der „Rationalisierung“ (Max Weber) und „Individualisierung“ (Ulrich Beck) gebracht - zwei Worte, die im journalistischen Gebrauch zu Allgemeinplätzen geronnen sind, aber den Vorteil haben, dass sie eine ganze Reihe von Phänomenen umfassen. Einerseits die Standardisierung von Produktionsprozessen, die Formalisierung des Rechtssprechung oder die Bürokratisierung von Institutionen zum Beispiel. Andererseits die Pluralisierung der Lebensstile, die Liberalisierung der Gesellschaften oder die Ludifizierung der Welt.
Es ist daher auch kein Wunder, dass „Rationalisierung“ und „Individualisierung“ noch immer die Doppel-Matrix bilden, in die all die Bindestrich-Gesellschaften eingepasst werden, die Soziolgen in den vergangenen Jahrzehnten ersonnen haben: etwa die Arbeits-, Freizeit-, Erlebnis-, Risiko-, Angst-, Informations- und Multioptionsgesellschaft.
Natürlich hat es nicht an Versuchen gemangelt, die Moderne mit alternativen Meta-Theorien auf einen Oberbegriff zu bringen. Karl Marx erklärte die durch „Kapitalakkumulation“ in Gang gesetzte Industrialisierung, genauer: die dynamische Funktionslogik der Fabrikation von Mehrwert durch das Ausbeuten von Rohstoffen und Menschen zur Zentralfaktizität der Neuzeit. Niklas Luhmann griff Überlegungen zur Arbeitsteilung (Émile Durkheim) auf, um seine Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung westlicher Gesellschaften (in Systeme der Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Kultur) zu entwickeln. Zuletzt versuchte Hartmut Rosa, „Rationalisierung“, „Individualisierung“ und „Ausdifferenzierung“ unter Berufung auf Karl Marx und Max Weber als Epiphänomene von „Beschleunigung“ zu deuten.
Andreas Reckwitz, Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, tritt nun wieder einen Schritt zurück und knüpft an die traditionellen Begriffe der „Rationalisierung“ und Individualisierung“ an - freilich nicht, um mit ihnen die Moderne zu deuten, sondern um sie von der Spätmoderne abzugrenzen. Reckwitz sieht seit den 1970er Jahren eine „Neukonfiguration der Formen der Vergesellschaftung“ sich vollziehen, die „die Grundstrukturen und Gewissheiten“ der Moderne erschüttert - und offeriert uns in seinem neuen Buch eine Theorie der Gegenwart, die sich auf einen einfachen Nenner bringen lässt: Die „soziale Logik des Allgemeinen“ in der Moderne verliert ihre Vorherrschaft an die „soziale Logik des Besonderen“ in der Spätmoderne.
Menschen, Waren, Städte, Reiseziele, Konsumgüter und Karrieren - schlicht alles ist in Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ heutzutage einzigartig, authentisch, außeralltäglich und exzeptionell, aufgeladen mit Ästhetik, Exklusivität und Eigensinn. Entsprechend müssen in der Spätmoderne der Arbeitsplatz und die Abendgestaltung, der distinktive Einkauf und die allgemeine Lebensführung für Bewunderungen und Ergriffenheiten offen sein - müssen die Menschen jeweils selbst und ihre Mitmenschen affizieren, sei es nun ein Opernbesuch oder ein Eröffnungsspiel, ein Bungee-Sprung oder eine Städtereise, ein Sushi-Essen oder ein Facebook-Post.
Mit Reckwitz gesprochen bedeutet das: „Prozesse der Singularisierung, Valorisierung und Kulturalisieriung“ werden in der Spätmoderne „leitend und strukturbildend“: Sie lösen eine „Logik des Allgemeinen“ ab, die noch für die alte, industrielle Moderne kennzeichnend war - eine Welt, in der zum Zwecke der Optimierung, Berechenbarkeit und Effizienzsteigerung auf Teufel komm raus normiert, typisiert, standardisiert und generalisiert wurde. Fließbandfertigung, Massenkonsum und Sozialstaat, so Reckwitz, hemmten und eliminierten in der industriellen Moderne das Außergewöhnliche zugunsten des Funktionellen, begünstigten das Kollektive zulasten des Individuellen - es herrschte der Geist einer normierten Normalität, in der „außengeleitete Charaktere“ ein regelhaftes Leben führten und „organisation men“ (David Riesman, William Whyte) an ihrer Einpassung in die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) arbeiteten.
Natürlich weiß auch Reckwitz, dass seine soziologische Binärformel (Moderne - Spätmoderne) historisch nicht haltbar ist, weshalb er einerseits die Romantik als gegenaufklärerische Antizipation der Spätmoderne einführt - und weshalb er andererseits die „Logik des Allgemeinen“ durch den Primat des Besonderen in der Spätmoderne nicht vollständig aufgehoben sieht: Vielmehr seien die Institutionen der Egalität heute eine Art Hintergrund und Infrastruktur, auf dessen Basis sich die „Kultur des Besonderen“ entfalte. Dennoch dürften sich viele Leser fragen, ob Reckwitz nicht zuweilen zum Opfer seinen eigenen Diganose wird - und dem Zwang zur Überakzentuierung seiner originellen These erliegt. Seine soziologisches Raster ist für die Erschließung der mannigfaltigen Singularitäten etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kunst und Wissenschaft zu grob. Es schließt einen historischen Zugang zur Wirklichkeit der Moderne nicht auf. Sondern verstellt ihn.
Dennoch ist das Buch, gelesen als soziologische Diagnose der Zeit, ein großer Gewinn. Reckwitz kann überzeugend darlegen, dass der Begriff der „Rationalisierung“ zur Beschreibung der Spätmoderne nichts taugt, dass der Begriff der „Individualisierung“ deutlich zu kurz greift - und dass sich die Spätmoderne als „Gesellschaft der Singularitäten“ umfassend in den Blick nehmen lässt, zum Beispiel:
• Die (digitalisierte) Plattform-Wirtschaft bringt nicht durchorganisierte Großkonzerne hervor, deren Produkte auf Massenfertigung und -konsum geeicht sind, sondern sie erzeugt Winner-takes-it-all-Märkte, in denen eine Handvoll kapitalintensiver Firmen personalisierte Kunden exklusiv adressieren.
• Die Arbeitswelt ist nicht gekennzeichnet von generalisierten Lohnvereinbarungen und Steinkühlerpausen für routinierte Facharbeiter im regelhaften Achtstundenbetrieb, sondern durch Kreativitätszwang in heterogenen Kollaborationen, Projekten und Netzwerken - und von flexiblen, freien Vertragsverhältnissen.
• In modernen, „innovationsorientierten Wettbewerbsstaaten“ werden tendenziell weniger allgemeine Leistungen verteilt, vielmehr besondere Leistungen prämiert: „Selbstunternehmer“ müssen sich mit „Alleinstellungsmerkmalen“ am Arbeitsmarkt anbieten.
• Nicht mehr das allgemein Verbindliche einer Nation ist der natürliche „Container“ einer Gesellschaft; statt dessen konkurrieren heute Regionen und Städte mit ihren Besonderheiten um Aufmerksamkeit von Investoren und Touristen. Und statt dessen haben heute Welt-Metropolen und Globalisierungseliten mehr miteinander gemein als zum Beispiel Köln mit der Eifel oder Berlin mit Brandenburg.
• Der kulturelle Liberalismus der Spätmoderne gibt sich zum Beispiel mit der allgemeinen Durchsetzung der „Menschenrechte“ nicht mehr zufrieden, sondern hegt und pflegt die besondere Identität von Persönlichkeiten und kulturellen Gruppen. Der Eigenwert von Kollektiven hat unter den Regimen der Nicht-Diskriminierung (Schwule, Behinderte etc.) und der Lebensqualität (Veganer) dramatisch zugenommen.
Kurzum: Mit Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ lassen sich die entscheidenden ökonomischen, kulturellen und politischen Prozesse und Probleme der Spätmoderne in den Blick nehmen. Denn dass der Vormarsch der „Logik des Besonderen“ problematisch ist, weil er „die Gesellschaft“ nicht nur partikularisiert, sondern auch in Gewinner und Verlierer zerfallen lässt - daran lässt Reckwitz am Ende keinen Zweifel.
Wenn Arbeitsverhältnisse, Lebensstile und Lebensräume sich polarisieren und der Raum für das gemeinsam Geteilte eng wird, ruft das nicht nur Abwehrreaktionen hervor, wie sie in „kulturessentialistischen“ und identitären Neogemeinschaften ihren Ausdruck finden. Sondern das wirft auch die Frage auf, wie sich die „Arbeit an der Allgemeinheit“ unter dem Regime des Besonderen organisieren ließe, wenn das Regime zugleich am Abbau der Möglichkeit arbeitet, diese Frage überhaupt noch zu stellen.