Tauchsieder

Ein guter, ein schlechter, ein fauler Kompromiss?

Ist die Krim verloren? Hat Merkel gut verhandelt? Steht Putin wie der große Sieger da? Anmerkungen zum Minsker Abkommen.

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Abkommen in Minsk Quelle: REUTERS

Ein Kompromiss ist maximal etwas Zweitbestes. Kein Wunder, dass wir ihn so wenig mögen. Für unseren Glauben stehen wir ein. Unsere Überzeugungen vertreten wir felsenfest. Unser Recht auf eigene Meinung ist uns heilig. Zu einem Kompromiss aber erklären wir uns bereit - wenn überhaupt. Er ist nichts, wofür wir leben, sondern auf den wir uns einlassen. Mit Blick auf Freunde, Partner und Familie liebend gern. Mit Blick auf alles andere eher unfreiwillig, widerwillig - weil's nicht anders geht.

Warum fasziniert uns eine "kompromisslose Natur"? Weil sie mit sich im Reinen, mit sich selbst identisch ist. Weil sie "Ihr Ding" durchzieht, wie man sagt. Weil sie Stärke ausstrahlt, Macht und Willenskraft, kurz: Souveränität. Für den politischen Kompromiss bedeutet das, dass er das Potenzial zur Kompromittierung hat. Er kann von Kritikern des Kompromisses als Zeichen der politischen Schwäche ausgelegt werden, als Machteinbuße und Souveränitätsverlust - und als Verrat an hochfliegenden Prinzipien und heiligen Grundüberzeugungen.

Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg

Von welcher Art sind nun die Kompromisse, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr französischer Amtskollege Francois Hollande in diesen Tagen geschlossen haben, mit Russland, der Ukraine und den so genannten "Separatisten"? Kann sich der russische Staatschef Wladimir Putin wie ein Sieger fühlen? Hat Merkel gute Kompromisse erzielt, schlechte Kompromisse oder faule Kompromisse? Wie hoch ist der Preis, den Europa und die Ukraine um des lieben Friedens willen zahlen sollen? Und wie viel Kapitulation steckt in der Konzession der Ukraine und ihres Präsidenten Petro Poroschenko, die Herrschaft über den Donbass auch nach einem Waffenstillstand den Separatisten zu überlassen? 

Es ist bezeichnend, dass es eine lange Tradition des philosophischen Denkens über die Frage des "gerechten Krieges" gibt, aber so gut wie keine Überlegungen zu der Frage eines "gerechtfertigten Friedens". Bezeichnend deshalb, weil die Denker des Abendlandes sich darin einig waren, dass ein "gerechter Krieg" nur im Namen von unbezweifelbaren (das hieß lange Zeit: von Göttern für schlüssig befundenen), also absoluten Gründen geführt werden kann - und weil es im Falle des "gerechtfertigten Friedens" darauf ankäme, den relativen Wert zweier positiver Güter (des Friedens und der Gerechtigkeit) gegeneinander aufzuwiegen.

Über das Buch

Dass es sich bei "Frieden" und "Gerechtigkeit" nicht um synonyme, nicht einmal komplementäre, sondern im Gegenteil: um zwei Begriffe handelt, zwischen denen sich ein großes Spannungsfeld auftut, leuchtet jedem spontan ein, der schon einmal Kleists "Michael Kohlhaas" gelesen, eine Monographie über die französischen Revolution durchgeblättert oder aber in den vergangenen Tagen die "Tagesschau" gesehen hat: Der russische Präsident Wladimir Putin destabilisiert die Ukraine, besetzt die Krim, bestellt Gewalt-Unternehmer in die Donbass-Region, um dort einen Krieg anzuzetteln - und wirft damit auch die beiden Fragen aller Fragen auf: Wie weit sollen wir in den Verhandlungen mit Putin für den Frieden gehen? Und wie groß dürfen die Abstriche sein, die das liberale Europa gegenüber dem Kreml (nicht Russland!) um des Friedens willen an allem macht, was wir für "gerecht" halten: die Einhaltung des Völkerrechts, die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen, das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes, die Demokratisierung Europas? 

Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat sich über die Frage des "gerechtfertigten Friedens" in einem anregenden (leider alles andere als stringenten) Buch* bereits vor vier Jahren aufschlussreiche Gedanken gemacht. Für ihn liegt ein Kompromiss exakt zwischen "Frieden" und "Gerechtigkeit" - und die Beurteilung seiner Qualität darin, welche Abstriche die "passive Seite" beim Thema "Gerechtigkeit" machen kann, um Frieden zu stiften - ohne dass diese Abstriche einer Kapitulation gleichkommen. Margalits Antwort: Die "passive Seite" muss sehr weit gehen. Aber nicht so weit, dass die Gerechtigkeit dabei vollkommen auf der Strecke bleibt. Tut sie es dennoch, handelt es sich um einen "faulen Kompromiss".

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