Ein fauler Kompromiss, so Margalit, liegt immer dann vor, wenn er "jederzeit moralisch falsch" ist, weil er Regime der Grausamkeit und Erniedrigung begünstigt - Regime, die "Menschen nicht wie Menschen" behandeln. Das Münchener Abkommen (1938) zum Beispiel ist für Margalit der klassische Fall eines faulen Kompromisses - und zwar nicht in erster Linie wegen seines Inhaltes und schon gar nicht wegen Chamberlains Motiv (Erhaltung des Friedens durch Beschwichtigung), sondern weil es mit Adolf Hitler geschlossen wurde: "Ein Pakt mit Hitler war ein Pakt mit dem radikal Bösen", so Margalit, und damit meint er nicht, dass Hitler Böses tat, "sondern dass er die Grundidee der Moral auszumerzen versuchte - indem er die Prämisse zurückwies, auf der jegliche Moral basiert, nämlich unser gemeinsames Menschsein". Anders gesagt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtfertigen eine militärische Intervention, weil sie einem Angriff auf das Fundament gleichkommen, auf dem alle Moral basiert.
Münchner Sicherheitskonferenz
Mehr als 400 Experten aus fast 80 Ländern. Darunter sind rund 20 Staats- und Regierungschefs sowie etwa 70 Außen- und Verteidigungsminister. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zum ersten Mal seit vier Jahren wieder dabei. Zu den prominentesten Teilnehmern zählen der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und US-Vizepräsident Joe Biden.
Ganz klar der Konflikt in der Ostukraine. Nach der Friedensinitiative von Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande ist die Sicherheitskonferenz die erste Gelegenheit, bei der hochrangige Vertreter Russlands und der Ukraine aufeinandertreffen können. Aus Kiew reist neben Poroschenko Außenminister Pawel Klimkin an. Aus Moskau ist Außenminister Sergej Lawrow dabei. Merkel, Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Laurent Fabius stehen als Vermittler bereit. Die USA sind mit Biden und Außenminister John Kerry vertreten. Sie alle werden in München übereinander reden. Inwieweit sie auch miteinander reden werden, ist noch offen.
Auf dem offiziellen Programm stehen am Samstag nacheinander Reden von Merkel, Biden, Lawrow und Poroschenko. Entscheidend wird sein, was nebenbei läuft. Mit Stand Beginn der Konferenz am Freitag war für Samstag nur ein Treffen Merkels mit Biden und Poroschenko geplant. Aber das kann sich bei solchen Konferenzen und angesichts der Dynamik der Entwicklung immer sehr schnell ändern. Bis zum Ende des Treffens am Sonntagnachmittag wird klar sein, inwieweit die neuen diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts Aussicht auf Erfolg haben.
Zweites großes Thema wird der Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat sein. Viele der rund 60 Mitgliedstaaten der Anti-IS-Allianz sind in München vertreten. Deutschland hat seine militärische Hilfe für die Kurden im Nordirak pünktlich zur Konferenz ausgeweitet. In der vergangenen Woche beschloss der Bundestag, bis zu 100 Militärausbilder in die Kurden-Hauptstadt Erbil zu schicken. Auch weitere Waffen sollen geliefert werden. Merkel trifft sich in München erstmals mit dem Kurden-Präsidenten Massud Barsani - ein ungewöhnlicher Termin, weil Barsani keinen Staat, sondern nur eine Region des Iraks vertritt.
Kaum. Über den Kampf gegen die islamistische Terrororganisation Boko Haram in Westafrika wird allenfalls am Rande gesprochen. Aus dem Afrika südlich der Sahara steht kein einziger Redner auf dem Tagungsprogramm. Aus Afghanistan reist Präsident Aschraf Ghani an. Aber die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft für den ungelösten Konflikt mit den radikalislamischen Taliban hat seit dem Ende des Nato-Kampfeinsatzes zum Jahreswechsel nochmals deutlich nachgelassen.
Entsprechend faul war auch der Kompromiss, den Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt mit Josef Stalin in Jalta erzielten: das Ende des gemeinsamen Krieges gegen Nazi-Deutschland war absehbar, als Großbritannien und die USA mit der "Operation Keelhaul" die Zwangs-Repatriierung von zweieinhalb Millionen Menschen aus der Sowjetunion beschlossen, über deren Schicksal in den Händen von Stalin sich die beiden Staatsmänner durchaus im klaren waren. Lässt man sich auf Margalits moralische Definition eines "faulen Kompromisses" ein, ist die Zahl der eindeutigen historischen Beispiele durchaus begrenzt. Interessant ist der Fall von Thomas Jefferson, der für das Zusammenwachsen der Amerikanischen Union bereit war, die Sklaverei zu akzeptieren - obwohl er von ihrer Verwerflichkeit schon damals überzeugt war. Selbst wenn Jefferson der Überzeugung gewesen wäre, die Union könne das Ende der Sklaverei beschleunigen, so konnte er doch unmöglich absehen, dies würde in zehn, zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren der Fall sein.
Der biblische Gedanke einer "Wüstengeneration" aber, deren Leben geopfert werden darf, damit spätere Generationen das ihre in Freiheit und Prosperität genießen können, sei moralisch verwerflich, so Margalit ganz im Sinne von Immanuel Kant: Wir dürfen Menschen nicht als Mittel zu einem Zweck einsetzen. Mindestens aber muss ein Kompromiss, will er nicht faul sein, "innerhalb des Horizonts einer lebenden Generation" die konkrete Aussicht auf Überwindung des Übels beinhalten.
Ein fauler Kompromiss, so Margalit weiter, unterscheidet sich scharf von einem guten und einem schlechten Kompromiss. Ein guter Kompromiss ist nicht primär dadurch gekennzeichnet, dass sich beide Seiten auf halbem Wege entgegenkommen und "Frieden" schließen, sondern ein guter Kompromiss ist ein Kompromiss, der aus Feinden Rivalen macht, Hostilität neutralisiert und den Verhandlungspartner als Träger berechtigter Interessen anerkennt.
Was das anbelangt, kann man den Minsk-Gipfel in einer ersten Anmutung durchaus als guten Kompromiss bezeichnen: Beide Seiten haben Träume aufgegeben, Maximalpositionen geräumt, die Sichtweise des Rivalen anerkannt, Zugeständnisse gemacht. Entscheidend ist nun, ob dem Kompromiss von beiden Seiten auch seine wörtliche Bedeutung beigemessen, das heißt: ob er als co-promissum, als gegenseitiges Versprechen verstanden wird. Nur auf diese Weise kann Vertrauen wachsen und Konkurrenz sich in Kooperation verwandeln.
Doch selbst wenn Russland und die Ukraine das Minsker Abkommen in den nächsten Monaten 1:1 umsetzen werden - handelt es sich wirklich um einen guten Kompromiss, den Merkel und Hollande den Herren Putin und Poroschenko da abgerungen haben? Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Merkel selbst hat vorab eingeräumt, dass sie daran Zweifel hegt. Als sie auf der Münchener Sicherheitskonferenz vor zehn Tagen darauf hinwies, dass auch der Bau der Berliner Mauer 1961 kein Kriegsgrund gewesen sei, versteckten sich dahinter mindestens drei widersprüchliche Botschaften. Erstens: Auch ich, Angela Merkel, habe mich 28 Jahre in Geduld üben müssen, bevor ich die Freiheit genießen durfte. Zweitens: Ich, Angela Merkel, bin unabhängig vom Ausgang der anstehenden Waffenstillstandsgespräche nicht nur von der Überlegenheit des Rechtsstaates, der Demokratie, der Meinungsfreiheit und der Unveräußerlichkeit individueller Grundrechte überzeugt, sondern auch davon, dass sich "westliche Werte" mittelfristig in der Ukraine (und in Russland über Putin hinweg) durchsetzen werden.