Herr Krieger, Sie betrachten Terrorismus aus einer ökonomischen Perspektive. Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen dem Islamischen Staat (IS) und einem Unternehmen?
Tim Krieger: Im Irak und Syrien, wo der IS sein Hauptgebiet hat, verkauft er Öl, Kunstschätze und ähnliche Güter, da verhält er sich wie ein öffentliches Unternehmen. Außerdem gibt es starke Ähnlichkeiten mit den Marketing-Strategien von international tätigen Unternehmen.
Das müssen Sie genauer erklären.
Der IS bedient ganz klar unterschiedliche Zielgruppen in verschiedenen Ländern. Auf der einen Seite sind da abschreckende Videos, die ein Signal in die westlichen Gesellschaften senden. Auf der anderen Seite gibt es Rekrutierungsvideos, in denen der IS für sich wirbt und bestimmte Charaktere anspricht. Da werden vermeintlich heldenhafte Kämpfer gezeigt, genauso wie Bilder des scheinbar guten Lebens im Islamischen Staat. Auch Frauen werden separat angesprochen. Zudem betreibt der IS eine Art Franchise-Terrorismus. Über das Internet bietet er in Form von Videos, Audiobotschaften, Magazinen und soziale Medien Identifikationsmöglichkeiten. Jeder, den das Narrativ des IS begeistert, kann es für sich vereinnahmen und seine Taten mit dem „Label“ schmücken.
Was macht die Marke IS so attraktiv, dass so viele den IS unterstützen im sozialen Netz, im Kernland des IS oder als Terrorist?
Der IS erreicht die Menschen, die ohnehin mit dem Leben in der westlichen Gesellschaft hadern. Er macht ihnen mit der Verheißung einer guten, islamistischen Gesellschaft ein Gegenangebot zur westlichen Gesellschaft. Gleichzeitig instrumentalisiert er die Spaltung zwischen Moslems und der Mehrheitsgesellschaft. Auf diesem Spannungsfeld basieren seine Angebote. Er wirbt mit militärischen Erfolgen und gibt jedem die Möglichkeit, sich dieser Erfolgsgeschichte anzuschließen und vom Ruhm des IS zu profitieren. In der Sozialpsychologie gibt es das Modell der Quest for Significance …
… zu deutsch: Die Suche nach Bedeutung.
Es legt nahe, dass es bei Terroristen oft um Identitätssuche und persönliche Krisen geht. Wer in unserer Gesellschaft Rückschläge und Diskriminierung erfährt, ist für Propaganda des IS empfänglicher und kann seine Taten in einen größeren Kontext stellen.
Terroristische Einzeltäter in Europa
Ein Islamist ersticht im Umland von Paris einen Polizisten und verschanzt sich in dessen Haus. Die Polizei stürmt das Gebäude und erschießt den Täter. Später wird dort auch die Lebensgefährtin des Opfers tot aufgefunden.
Ein 25-jähriger Marokkaner eröffnet in einem Zug von Amsterdam nach Paris das Feuer und wird von mehreren Fahrgästen überwältigt. Die Pariser Staatsanwaltschaft geht von terroristischen Motiven aus.
Ein 35-Jähriger wird überwältigt, als er in einem Industriegas-Werk bei Lyon eine Explosion verursachen will. Er hatte zuvor seinen Arbeitgeber enthauptet und den Kopf mit zwei Islamisten-Flaggen auf den Fabrikzaun gesteckt.
Ein arabischstämmiger 22-Jähriger feuert in Kopenhagen auf ein Kulturcafé. Ein Mann stirbt. Vor einer Synagoge erschießt der Attentäter einen Wachmann, bevor ihn Polizeikugeln tödlich treffen.
In Brüssel erschießt im Jüdischen Museum ein französischer Islamist vier Menschen. Kurz darauf wird er festgenommen. Als selbst ernannter „Gotteskrieger“ hatte er zuvor in Syrien gekämpft.
Ein junger Kosovo-Albaner erschießt auf dem Flughafen Frankfurt/Main zwei US-Soldaten und verletzt zwei weitere schwer. Der Mann gilt als extremistischer Einzeltäter.
Der norwegische Rechtsterrorist Anders Behring Breivik tötet bei zwei Anschlägen insgesamt 77 Menschen. Er zündet zuerst eine Bombe im Osloer Regierungsviertel und erschießt dann 69 meist jugendliche Teilnehmer eines sozialdemokratischen Ferienlagers.
In Frankreich ist zwischen den Islamexperten ein Streit entbrannt. Gilles Kepel, glaubt, dass die religiöse Dimension als Terrorursache unterschätzt wird. Sein Widersacher Olivier Roy spricht von einer „Islamisierung der Radikalität“ und hält religiöse Aspekte nur für einen Vorwand. Für ihn liegt die Terrorursache im ökologischen und sozialen Umfeld.
Man darf das nicht getrennt voneinander betrachten. Die Religion bedingt das sehr klare Weltbild, das durchaus attraktiv ist. Hinzu kommen ökonomische Faktoren wie etwa Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, relative Deprivation…
… also ein Gefühl der Ausgrenzung…
und fehlende Chancengleichheit, was viele junge Muslime im Westen plagt. Sie glauben, sie könnten Dinge erreichen, die andere auch erreichen, wenn es nur etwas gerechter zuginge.
"Geringe Bildung befördert den Terrorismus nicht grundsätzlich"
Die Täter, die die IS-Anschläge auf europäischen Boden durchführten, sind mit wenigen Ausnahmen in Europa aufgewachsen. Tragen westliche Gesellschaften eine Schuld am Terror hier?
Grundsätzlich gibt es in jeder Gesellschaft Menschen, die sich abgehängt fühlen und Rachefantasien hegen. Manche setzen sie um. Wir sehen das bei Schul-Amokläufern, die eine Menge mit islamistischen Terroristen gemeinsam haben, vom religiösen Hintergrund einmal abgesehen. Je offener und anonymer eine Gesellschaft ist, desto mehr Menschen haben das Gefühl, nur am Rande zu stehen. Diesen Menschen müssen wir eine Perspektive bieten – hierbei versagen viele westliche Gesellschaften.
Große Terroranschläge in Europa
Ein Lieferwagen rast auf der Flaniermeile "Las Ramblas" im Zentrum Barcelonas in eine Menschenmenge. Nach offiziellen Angaben soll es mindestens einen Toten und 32 Verletzte gegeben haben, Medien berichten von zwölf Toten. Die Polizei bestätigt, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Die Hintergründe der Tat sind zunächst unklar.
Auf der London Bridge überfahren drei Attentäter mehrere Fußgänger, dann greifen sie eine beliebte Markthalle an. Mindestens sechs Menschen kommen ums Leben, die Angreifer werden getötet.
Bei dem Selbstmordanschlag in Manchester auf Gäste eines Pop-Konzerts hatte Salman Abedi, ein Brite libyscher Abstammung, 22 Menschen ermordet. Außerdem wurden 116 Menschen zur Behandlung von Verletzungen in Krankenhäuser gebracht. Die Polizei geht davon aus, dass Abedi kein Einzeltäter war, sondern dass ein ganzes Terrornetzwerk hinter der Tat steckt.
Auf dem Pariser Boulevard Champs-Élysées schießt ein Islamist mit einem Sturmgewehr in einen Polizeiwagen. Ein Beamter wird getötet, zwei weitere Polizisten und eine deutsche Passantin werden verletzt. Die Polizei erschießt den Angreifer, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamiert die Attacke für sich.
Ein gekaperter Lastwagen rast in einer Einkaufsstraße erst in Stockholm in eine Menschenmenge und dann in ein Kaufhaus. Fünf Menschen werden getötet, 15 verletzt. Noch am selben Tag nimmt die Polizei einen 39-jährigen Usbeken unter Terrorverdacht fest.
Ein Attentäter steuert ein Auto absichtlich in Fußgänger auf einer Brücke im Zentrum Londons und ersticht anschließend einen Polizisten. Von den Opfern auf der Brücke erliegen vier ihren Verletzungen. Sicherheitskräfte erschießen den Täter.
Auf dem Pariser Flughafen Orly verhindern Soldaten nur knapp einen möglichen Terroranschlag. Ein Mann will einer dort patrouillierenden Soldatin das Gewehr entreißen und wird von anderen Soldaten erschossen. Erst Anfang Februar war nahe dem Louvre-Museum ein Ägypter niedergeschossen worden, der sich mit Macheten auf eine Militärpatrouille gestürzt hatte.
Am Abend des 19. Dezember 2016 rast ein LKW in einen Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Das Attentat fordert 12 Tote und viele teils Schwerverletzte.
In Nordfrankreich ermorden zwei Angreifer einen katholischen Priester in einer Kirche und verletzen eine weitere Person schwer. Beide Attentäter werden von den Sicherheitskräften erschossen.
In Ansbach in Bayern sprengt sich ein 27-jähriger syrischer Flüchtling vor dem Eingang zu einem Musikfestival mit einer Rucksackbombe in die Luft. Der Attentäter stirbt. 15 Menschen werden verletzt. Auf dem Handy des Mannes findet die Polizei später ein Bekennervideo. Das IS-Sprachrohr Amak behauptet einen Tag später, der Attentäter sei „Soldat des Islamischen Staates“.
In einem Vorort von Würzburg greift ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan in einem Regionalzug Fahrgäste mit einer Axt an. Er verletzt mehrere Menschen teils schwer. Auf seiner Flucht wird er von der Polizei erschossen. Einen Tag später veröffentlichte das IS-Sprachrohr Amak im Internet ein Video des Attentäters. Darin spricht er davon, dass er im Auftrag des IS gehandelt habe und sich an Nicht-Muslimen rächen wollte, die seinen Glaubensbrüdern Leid angetan hätten.
In Nizza fährt ein schwer bewaffneter Franzose tunesischer Herkunft mit einem Lastwagen in die Menge, die den französischen Nationalfeiertag feiert. Er tötet 84 Menschen.
Am Flughafen Istanbul-Atatürk schoss am 28. Juni 2016 ein Attentäter in der Eingangshalle mit einem Sturmgewehr um sich, warf Handgranaten in die Menge und zündete einen Sprengsatz. Zeitgleich sprengte sich ein weiterer Attentäter in einem Parkhaus in die Luft. Ein dritter Täter zündete offenbar einen Bombe in U-Bahn-Nähe. Die türkische Regierung ordnet den Anschlag dem Islamischen Staat zu. Insgesamt kamen 44 Menschen ums Leben (darunter die drei Attentäter); 239 weitere wurden verletzt. (Stand: 29.06.2016, 14:30 Uhr)
Ein Franzose marokkanischer Herkunft ermordet in einem Pariser Vorort einen Polizisten und dessen Lebensgefährtin, die ebenfalls bei der Polizei arbeitet.
Am Morgen des 22. März 2016 sprengten sich zwei Terroristen am Flughafen Brüssel-Zaventem in die Luft sowie ein weiterer im U-Bahnhof Maalbeek/Maelbeek in der Brüsseler Innenstadt nahe der EU-Behörden. Nach offiziellen Angaben kamen 35 Menschen ums Leben, darunter drei der Attentäter. Mehr als 300 Personen wurden verletzt.
Zwei Attentäter brachten ihr gestohlenes Auto an der Bushaltestelle einer Metrostation im Stadtzentrum von Ankara zur Explosion – 38 Menschen kamen ums Leben, darunter waren auch die Attentäter. Mehr als 120 Menschen wurden verletzt. Zu dem Anschlag, der sich am 13. März 2016 ereignete, bekannte sich eine Splittergruppe der Terrororganisation PKK.
Ein IS-Attentäter sprengte sich am 12. Januar 2016 auf dem belebten Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul in die Luft – und riss 12 Menschen mit in den Tod. Elf von ihnen gehörten einer deutschen Touristengruppe an. 13 weitere Personen wurden verletzt.
Extremisten mit Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat greifen die Konzerthalle Bataclan und andere Ziele in der französischen Hauptstadt Paris an. Dabei kommen 130 Menschen ums Leben. Ein Hauptverdächtiger im Zusammenhang mit den Angriffen ist der 26 Jahre alte Salah Abdeslam, der am 18. März 2016 in Brüssel festgenommen wird.
Ein 22-jähriger radikalislamischer Angreifer tötet den Filmemacher Finn Nørgaard und einen jüdischen Wachmann einer Synagoge in Kopenhagen. Bei einem Feuergefecht mit einer Spezialeinheit der Polizei wird er erschossen.
Drei Extremisten töten bei einer mehrere Tage dauernden Terrorwelle in Paris 17 Menschen, bevor sie selbst erschossen werden. Zunächst greifen zwei Brüder das Büro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ an und erschießen zwölf Menschen. Für den den Angriff übernimmt Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel die Verantwortung. In den Tagen darauf tötet ein weiterer Extremist eine Polizistin und nimmt in einem koscheren Supermarkt Geiseln. Vier jüdische Kunden sterben.
Im Jüdischen Museum in Brüssel tötet ein Angreifer mit einer Kalaschnikow vier Menschen. Der mutmaßliche Täter ist ein ehemaliger französischer Kämpfer, der Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien haben soll.
Zwei von Al-Kaida inspirierte Extremisten greifen auf einer Londoner Straße den britischen Soldaten Lee Rigby an und töten ihn mit Messern und einem Fleischerbeil.
Ein Bewaffneter, der nach eigenen Angaben Verbindungen zur Al-Kaida hat, tötet in der südfranzösischen Stadt Toulouse drei jüdische Schulkinder, einen Rabbi sowie drei Fallschirmjäger.
Der muslimfeindliche Extremist Anders Behring Breivik legt eine Bombe im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo und greift anschließend ein Jugendlager auf der Insel Utøya an. 77 Menschen werden getötet, viele davon Teenager.
52 Pendler kommen ums Leben, als sich vier von Al-Kaida inspirierte Selbstmordattentäter in drei Zügen der Londoner U-Bahn und einem Bus in die Luft sprengen.
Bombenanschläge auf Züge zum Madrider Bahnhof Atocha töten 191 Menschen.
Woran machen Sie das fest?
Wir haben uns angeschaut, wie verschiedene Säulen des Sozialstaats sich auf die Anzahl von Terrorattacken auswirken.
Und?
Wenn die Staatsausgaben perspektivisch eingesetzt werden, reduziert das die Zahl der Anschläge. Ein Beispiel dafür ist die aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Betrachten wir dagegen Maßnahmen wie ein einfaches Arbeitslosengeld, ist dieser Effekt nicht zu erkennen. Das deutet darauf hin, dass es um die Perspektive geht.
Nun stammen die Attentäter überwiegend aus der dritten Migrantengeneration. Ihre Eltern sind oft gut integriert. Haben sie nicht deutlich bessere Perspektiven als ihre Vorfahren?
Migration ist ein Prozess, der über mehrere Generationen läuft. Dass viele Attentäter aus der dritten Generation stammen, ist kein Zufall. Dabei geht es um Konflikte mit den gut integrierten Eltern, aber auch um aktuelle Diskriminierung. Die Jungen besinnen sich auf die eigenen Wurzeln und suchen Antworten, die sie in der islamistischen Propaganda finden. Es gelingt uns nicht ausreichend, diese Menschen aufzufangen.
Welche Rolle spielt mangelnde Bildung?
Geringe Bildung befördert Terrorismus nicht grundsätzlich, das zeigen empirische Studien. Der Bildungsaspekt wird erst problematisch, wenn sie mit Diskriminierung oder relativer Deprivation zusammenkommt. Das erkennen wir in den arabischen Ländern. Hier gibt es viele junge, gebildete Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, weil er nicht dynamisch genug ist oder Arbeitsplätze primär über Beziehungen vergeben werden. Bei solchen strukturellen Problemen kann mehr Bildung Terrorismus sogar befördern, weil die Menschen besonders frustriert sind.
Und wie ist es um Armut bestellt?
Nur weil ein Land oder eine Bevölkerungsgruppe arm ist, wird ebenfalls niemand zum Terroristen.
"Langfristig rächt sich das"
Gibt es aus Ihrer Sicht Unterschiede zwischen westlichen und arabischen Gesellschaften, die zum Teil kurz vor dem Zusammenbruch stehen, was die Ursachen von Terrorismus angeht?
In westlichen Gesellschaften gibt es mehr politische, soziale und ökonomische Teilhabemöglichkeiten. Schließe ich mich einer Terrorgruppe an, gebe ich das alles auf. Der relative Preis des Terrorismus ist hier deutlich höher als in Gesellschaften, die zerfallen. Deswegen sind Terroranschläge im Westen auch vergleichsweise selten – gemessen an dem, was in der arabischen Welt geschieht.
Trotzdem wirkt es mittlerweile, als wäre die Bedrohung in Europa allgegenwertig. Eine Überreaktion unserer Öffentlichkeit?
Für Menschen ist es unglaublich schwierig, Ereignisse einzuordnen, die zum einen sehr selten, zum andern aber mit sehr hohen Kosten verbunden sind, wenn sie eintreten. Jedem von uns hat Terrorismus grausame Bilder in den Kopf eingebrannt, so etwas will niemand persönlich erleben. Das führt zu einer Überbewertung des tatsächlichen Risikos, mit fatalen Folgen.
Zum Beispiel?
Nach 9/11 sind die Menschen weniger mit dem Flugzeug geflogen, das nach wie vor eines der sichersten Verkehrsmittel ist. Stattdessen wählten sie das Auto. Schätzungen gehen davon aus, dass es pro Monat in den USA deswegen mehrere Hundert Verkehrstote zusätzlich gab.
Frankreich und der Terror
Am französischen Nationalfeiertag am 14. Juli rast in der Hafenstadt Nizza ein Attentäter mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge. Mindestens 84 Menschen werden getötet, mehr als 200 verletzt.
Am 26. Juli haben in Saint-Étienne-du-Rouvray in der Normandie zwei Geiselnehmer einen Priester getötet, ein weiteres Opfer schwebt in Lebensgefahr. Die mutmaßlichen Täter wurden getötet. Der IS reklamierte die Tat über sein Sprachrohr Amak für sich.
Ein Mann ersticht in Magnanville westlich von Paris einen Polizisten und dessen Lebensgefährtin. Die Polizei erschießt den Täter, der sich zuvor zum IS bekannt hatte.
Am Jahrestag der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ schießen Polizisten vor einem Pariser Kommissariat einen Mann nieder. Er war mit einem Messer bewaffnet und trug die Attrappe einer Sprengstoffweste.
Bei einer koordinierten Anschlagsserie in Paris töten IS-Extremisten 130 Menschen. In der Konzerthalle „Bataclan“ richten sie ein Massaker an, Bars und Restaurants werden beschossen, am Stade de France sprengen sich während des Fußball-Länderspiels Frankreich-Deutschland drei Selbstmordattentäter in die Luft.
Ein 25-jähriger Islamist wird im Thalys-Schnellzug auf dem Weg von Brüssel nach Paris bei einem Anschlagversuch mit einem Schnellfeuergewehr von Fahrgästen überwältigt. Zwei Zuginsassen werden verletzt.
Bei einem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in Paris werden zwölf Menschen ermordet. Die beiden islamistischen Attentäter Chérif und Said Kouachi kommen zwei Tage später bei einer Polizeiaktion nordöstlich von Paris um. Der Islamist Amedy Coulibaly, der die Brüder Kouachi kannte, erschießt bei Paris eine Polizistin und nimmt mehrere Geiseln in einem jüdischen Supermarkt. Er tötet dort vier Menschen, bevor er von der Polizei erschossen wird.
Die Gruppe Jund al-Khilafa („Soldaten des Kalifats“), ein Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat, enthauptet einen in Algerien entführten französischen Touristen.
In Mali werden zwei Mitarbeiter von Radio France Internationale (RFI) entführt und ermordet. Die Terrororganisation Al-Kaida im islamischen Maghreb bekennt sich zur Tat. Zuvor hatte sich die Gruppe dazu bekannt, eine andere französische Geisel getötet zu haben.
Ein Serien-Attentäter erschießt sieben Menschen, darunter drei Kinder und einen Lehrer einer jüdischen Schule. Er wird nach rund 32-stündiger Polizeibelagerung seiner Wohnung erschossen. Zuvor hatte er sich als Al-Kaida-Anhänger bezeichnet.
Vor der Küste Jemens rammt ein mit Sprengstoff beladenes Boot den französischen Tanker „Limburg“. Ein Matrose kommt ums Leben. Al-Kaida bekennt sich zu dem Anschlag.
Bei einem Anschlag mit einer Gasflaschen-Bombe im Pariser S-Bahnhof Port Royal kommen vier Menschen ums Leben. Bereits 1995 waren bei einer Serie von Terroranschlägen, die islamischen Fundamentalisten aus Algerien zugeschrieben werden, in Frankreich insgesamt acht Menschen getötet worden.
Bei einem Absturz eines französischen Flugzeugs in Folge einer Bombenexplosion an Bord über dem afrikanischen Staat Niger sterben 170 Menschen. Ein französisches Gericht verurteilt sechs Libyer in Abwesenheit zu lebenslanger Haft, unter ihnen einen Schwager des damaligen libyschen Staatschefs Muammar el Gaddafi.
Der bayrische Innenminister Joachim Herrmann hatte nach den Ereignissen in Bayern verschärfte Sicherheitsmaßnahmen gefordert.
Die Bürger haben nach Anschlägen eine gesteigerte Sicherheitsnachfrage, die Politik versucht darauf zu reagieren und ergreift gut sichtbare, vermeintlich schnell wirksame Maßnahmen: Mehr Polizisten patrouillieren in der Öffentlichkeit, mehr Kameras werden aufgestellt. All das erzeugt kurzfristig ein gesteigertes Sicherheitsgefühl.
Ändert aber langfristig nichts an den Ursachen des Terrorismus?
Zum einen das. Zum andern haben diese Maßnahmen einen konsumtiven Charakter. Das Sicherheitsgefühl wird gesteigert, solange Geld dafür ausgegeben wird. Werden die Polizisten abgezogen, ist das Sicherheitsgefühl weg. Letztendlich nimmt die Politik Veränderungen in der Struktur der Staatsausgaben vor - hin zu kurzfristigen, nicht nachhaltigen Maßnahmen. Insbesondere in Ländern, in denen der Staatshaushalt nicht gut aussieht, geht das zulasten von Ausgaben mit präventivem Charakter – in Paris hätte man etwa für das Geld, das in mehr Polizeipräsenz investiert wurde, städtebauliche Maßnahmen in den Banlieues durchführen können. Langfristig rächt sich das.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Also ist Sozialpolitik auch Antiterrorpolitik?
Gerade die sozialen Schichten, die ohnehin eher empfänglich für IS-Propaganda sind, sind die großen Verlierer, wenn der Staat beginnt, Sozialleistungen zu kürzen. Hinzu kommt, dass eine Terrorkampagne, wie wir sie jetzt erleben, die Wirtschaft nachhaltig schädigen kann. Ein Einzelattentat wie 9/11 hatte trotz seines Ausmaßes nur eine sehr kurzfristige Wirkung auf die Wirtschaft. Die ständigen Anschläge des IS drohen, nachhaltig Unsicherheit zu erzeugen, und kosten Lebenszufriedenheit. Das wiederum führt dazu, dass weniger konsumiert und weniger investiert wird. Das Wachstum lässt nach, Arbeitsplätze fallen weg, es wird abermals schwieriger, Abgehängte zu integrieren.
"Wir dürfen uns keine Illusionen machen"
Glauben Sie nicht, dass mehr Sicherheitsmaßnahmen auch den Terroristen das Leben erschweren?
Die Finanzmittel von Terrororganisationen sind knapp, deswegen wägen sie genau ab, wann sie am besten wo angreifen, um eine maximale Wirkung zu erzielen. Vor den Siebzigern waren Flugzeugentführungen das übliche Mittel des Terrors. Dann wurden Metalldetektoren an Flughäfen eingeführt und die Zahl der Entführungen ging schlagartig zurück. Im Laufe der Zeit hatten sich die Amerikaner daran gewöhnt, dass Flugzeuge sicher sind…
… und dann kam 9/11.
Seitdem sind Flughäfen unglaublich abgesichert. Die Folge war abermals ein Strategiewechsel. Danach hat Al Qaida sich Ziele gesucht wie die U-Bahn in London 2005. Man kann hier von Substitutionseffekten sprechen. Totale Sicherheit gibt es nicht.
Ist so auch das Umschwenken des IS von zentralgesteuerten Kommandoattacken auf Einzelattentäter zu erklären?
Das kann man durchaus so interpretieren. Einzeltäter sind für den IS unglaublich attraktiv. Sie zu akquirieren kostet kaum Geld, ihre Attentate verbreiten ebenso Angst und Schrecken wie die groß durchgeführten Kommandoaktionen und sie sind für die Sicherheitskräfte kaum kontrollierbar.
So schützen sich große Flughäfen vor Terror
Die beiden Passagier-Terminals des größten deutschen Flughafens sind über etliche Eingänge frei zugänglich. Außerdem sind zwei Bahnhöfe sowie Hotel- und Kongresszentren mit den Gebäuden verbunden. Der Sicherheitsbereich beginnt erst innerhalb der Terminals hinter den Personenkontrollstellen für den Flugbetrieb.
Davor liegen große Hallen mit Geschäften, Schaltern und Lokalen. Die Polizei überwacht diesen Bereich mit Streifen und Video-Kameras. Wer im Sicherheitsbereich arbeitet, braucht eine Unbedenklichkeitsbescheinigung, ausgestellt vom Land Hessen.
Quelle: dpa
Nach den Bombenanschlägen in einer Halle des Brüsseler Flughafens Zaventem im vergangenen März wurden dort die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. So wurden zunächst Passagiere und ihr Gepäck bereits am Eingang zu den Terminals erstmals kontrolliert. Wer die Halle betreten wollte, musste seinen Ausweis und ein Flugticket vorzeigen. Nach Protesten von Reisenden in langen Warteschlangen wurden die Maßnahmen nach wenigen Wochen wieder gelockert.
Einlasskontrollen sind an jedem türkischen Flughafen Standard. Schon beim Eintritt ins Gebäude wird das Gepäck geröntgt, also Handgepäck und aufzugebende Koffer. Jeder, der in den Flughafen will, muss durch einen Metallscanner. Nach dem Check-In folgt die zweite Sicherheitskontrolle, die der in Deutschland entspricht und die nur noch Fluggäste passieren dürfen. Beim Check-In muss ein Ausweis vorgelegt werden. Beim Einstieg ins Flugzeug wird der Name auf dem Ausweis dann mit dem auf dem Boarding-Pass abgeglichen.
Wer einen der drei Moskauer Flughäfen betritt, wird schon am Gebäudeeingang kontrolliert: Reisende wie Besucher müssen Handtaschen öffnen, Hosen- und Jackentaschen leeren und durch einen Metalldetektor laufen. Das Hauptgepäck wird von einem Röntgengerät durchleuchtet. In der Wartehalle und vor den Schaltern patrouillieren Wachleute. Nach dem Check-In folgt die eigentliche Flugsicherheitskontrolle.
Am größten Flughafen des Landes in der Hauptstadt Kabul müssen Reisende vor der Ankunft im Terminal durch zwei Autokontrollen samt Sprengstoffspürhunden, drei Ticketkontrollen und fünf Körperkontrollen. Drei oder vier Mal - je nachdem, ob die Geräte gerade funktionieren - muss das Gepäck zum Durchleuchten auf Bänder gewuchtet werden.
Kontrollen beginnen schon bei der Einfahrt auf das Flughafengelände, etwa einen Kilometer vor dem Terminal. Das Personal, das Menschen auf Sprengstoffwesten oder Waffen abtastet, ist aber oft lustlos oder lässt dies ganz sein. Ausländer werden nach Trinkgeld gefragt.
Israels internationaler Flughafen Ben Gurion wird besonders streng geschützt, da das Land seit Jahrzehnten mit einer Terrorbedrohung lebt. Dabei wird ein Ring von Kontrollen eingesetzt, der einer Zwiebel gleicht. Passagiere werden bei der Ankunft im Auto schon Kilometer vor dem Terminal von bewaffneten Sicherheitskräften überprüft. Nach Passieren eines weiteren Wächters am Eingang folgen im kameraüberwachten Terminal selbst eine persönliche Befragung und eine gründliche Untersuchung des Gepäcks mit Durchleuchtungssystemen. Dabei werden Reisende in verschiedene Risikogruppen eingestuft. Bei den Kontrollen geht Sicherheit eindeutig vor Persönlichkeitsrechten - was immer wieder zu Beschwerden vor allem arabischer Reisender führt.
Während der Terror des IS im Westen präsenter erscheint als je zuvor, wird die Terrororganisation in Syrien und Irak stark zurückgedrängt und muss Gebietsverluste hinnehmen. US-Generäle behaupten, den IS als Territorialmacht in absehbarer Zeit zerschlagen zu können. Ist das die Lösung für das Problem?
Wir dürfen uns keine Illusionen machen, ein Zusammenbruch des IS führt nicht automatisch zu weniger Terrorismus in Europa. Die innereuropäischen Ursachen dieses Phänomens werden dadurch nicht beseitigt. Der IS wird dann vielleicht an Attraktivität verlieren, aber in die Lücke werden andere Organisationen dringen. Mit einem Zusammenbruch des IS dürfte ein ganz anderes Problem auf uns zukommen.
Welches?
Diejenigen werden zurückkommen, die als erste von Europa nach Syrien und in den Irak reisten, um sich dem IS anzuschließen. Völlig verrohte Jihadisten, die die Sicherheitsbehörden zum Teil nicht einmal auf den Schirm haben. Ich weiß nicht, wie wir die kontrollieren sollen.
Also sehen Sie keinen Sinn darin, den IS in seinem Kerngebiet weiter zu schwächen?
Grundsätzlich wäre es ein Fortschritt, den IS zu zerschlagen. Wenn Syrien befriedet würde, könnten viele Menschen in ihre Heimat zurückkehren, das würde auch die Stimmung in Europa verbessern. Aber letztendlich löst ein Zusammenbruch weder die innereuropäischen Probleme noch löscht er die islamistische Ideologie aus, die längst auch in Europa Fuß gefasst hat.