Herr Krieger, Sie betrachten Terrorismus aus einer ökonomischen Perspektive. Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen dem Islamischen Staat (IS) und einem Unternehmen?
Tim Krieger: Im Irak und Syrien, wo der IS sein Hauptgebiet hat, verkauft er Öl, Kunstschätze und ähnliche Güter, da verhält er sich wie ein öffentliches Unternehmen. Außerdem gibt es starke Ähnlichkeiten mit den Marketing-Strategien von international tätigen Unternehmen.
Das müssen Sie genauer erklären.
Der IS bedient ganz klar unterschiedliche Zielgruppen in verschiedenen Ländern. Auf der einen Seite sind da abschreckende Videos, die ein Signal in die westlichen Gesellschaften senden. Auf der anderen Seite gibt es Rekrutierungsvideos, in denen der IS für sich wirbt und bestimmte Charaktere anspricht. Da werden vermeintlich heldenhafte Kämpfer gezeigt, genauso wie Bilder des scheinbar guten Lebens im Islamischen Staat. Auch Frauen werden separat angesprochen. Zudem betreibt der IS eine Art Franchise-Terrorismus. Über das Internet bietet er in Form von Videos, Audiobotschaften, Magazinen und soziale Medien Identifikationsmöglichkeiten. Jeder, den das Narrativ des IS begeistert, kann es für sich vereinnahmen und seine Taten mit dem „Label“ schmücken.
Was macht die Marke IS so attraktiv, dass so viele den IS unterstützen im sozialen Netz, im Kernland des IS oder als Terrorist?
Der IS erreicht die Menschen, die ohnehin mit dem Leben in der westlichen Gesellschaft hadern. Er macht ihnen mit der Verheißung einer guten, islamistischen Gesellschaft ein Gegenangebot zur westlichen Gesellschaft. Gleichzeitig instrumentalisiert er die Spaltung zwischen Moslems und der Mehrheitsgesellschaft. Auf diesem Spannungsfeld basieren seine Angebote. Er wirbt mit militärischen Erfolgen und gibt jedem die Möglichkeit, sich dieser Erfolgsgeschichte anzuschließen und vom Ruhm des IS zu profitieren. In der Sozialpsychologie gibt es das Modell der Quest for Significance …
… zu deutsch: Die Suche nach Bedeutung.
Es legt nahe, dass es bei Terroristen oft um Identitätssuche und persönliche Krisen geht. Wer in unserer Gesellschaft Rückschläge und Diskriminierung erfährt, ist für Propaganda des IS empfänglicher und kann seine Taten in einen größeren Kontext stellen.
Terroristische Einzeltäter in Europa
Ein Islamist ersticht im Umland von Paris einen Polizisten und verschanzt sich in dessen Haus. Die Polizei stürmt das Gebäude und erschießt den Täter. Später wird dort auch die Lebensgefährtin des Opfers tot aufgefunden.
Ein 25-jähriger Marokkaner eröffnet in einem Zug von Amsterdam nach Paris das Feuer und wird von mehreren Fahrgästen überwältigt. Die Pariser Staatsanwaltschaft geht von terroristischen Motiven aus.
Ein 35-Jähriger wird überwältigt, als er in einem Industriegas-Werk bei Lyon eine Explosion verursachen will. Er hatte zuvor seinen Arbeitgeber enthauptet und den Kopf mit zwei Islamisten-Flaggen auf den Fabrikzaun gesteckt.
Ein arabischstämmiger 22-Jähriger feuert in Kopenhagen auf ein Kulturcafé. Ein Mann stirbt. Vor einer Synagoge erschießt der Attentäter einen Wachmann, bevor ihn Polizeikugeln tödlich treffen.
In Brüssel erschießt im Jüdischen Museum ein französischer Islamist vier Menschen. Kurz darauf wird er festgenommen. Als selbst ernannter „Gotteskrieger“ hatte er zuvor in Syrien gekämpft.
Ein junger Kosovo-Albaner erschießt auf dem Flughafen Frankfurt/Main zwei US-Soldaten und verletzt zwei weitere schwer. Der Mann gilt als extremistischer Einzeltäter.
Der norwegische Rechtsterrorist Anders Behring Breivik tötet bei zwei Anschlägen insgesamt 77 Menschen. Er zündet zuerst eine Bombe im Osloer Regierungsviertel und erschießt dann 69 meist jugendliche Teilnehmer eines sozialdemokratischen Ferienlagers.
In Frankreich ist zwischen den Islamexperten ein Streit entbrannt. Gilles Kepel, glaubt, dass die religiöse Dimension als Terrorursache unterschätzt wird. Sein Widersacher Olivier Roy spricht von einer „Islamisierung der Radikalität“ und hält religiöse Aspekte nur für einen Vorwand. Für ihn liegt die Terrorursache im ökologischen und sozialen Umfeld.
Man darf das nicht getrennt voneinander betrachten. Die Religion bedingt das sehr klare Weltbild, das durchaus attraktiv ist. Hinzu kommen ökonomische Faktoren wie etwa Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, relative Deprivation…
… also ein Gefühl der Ausgrenzung…
und fehlende Chancengleichheit, was viele junge Muslime im Westen plagt. Sie glauben, sie könnten Dinge erreichen, die andere auch erreichen, wenn es nur etwas gerechter zuginge.