Terror in Brüssel Wie ein Betroffener die Anschläge verarbeitet

Der Jude Walter Benjamin war auf dem Weg zu seiner Tochter in Israel, als er bei den Brüsseler Anschlägen ein Bein verlor. Per Facebook schreibt er seine Erlebnisse von der Seele – und erreicht damit auf Tausende.

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Walter Benjamin (rechts) verarbeitet seine traumatischen Erlebnisse per Facebook. Quelle: AP

Brüssel In einem Brüsseler Krankenhaus versucht Walter Benjamin, seine körperliche und seelische Verwundung zu verarbeiten. Der 47-Jährige wollte am 22. März von Brüssel nach Israel fliegen, als die Bombe eines Selbstmordattentäters sein Bein zerfetzte. Um ihn herum wurden Menschen getötet, ihm rettete vermutlich sein Rucksack das Leben.

Auf Facebook teilt der Angestellte einer Dating-Agentur Ängste und Hoffnungen und gibt denen eine Stimme, die die Anschläge mit 32 Toten überlebten: 270 Menschen wurden bei den Attentaten im Flughafen und einer Metrostation verletzt, viele davon schwer verbrannt und verstümmelt. 66 Menschen liegen noch immer in belgischen Krankenhäusern, weitere werden im Ausland behandelt.

In seinen Posts wendet sich Benjamin, ein belgischer Jude, gegen die Dämonisierung der Muslime nach dem islamistischen Terror: Er traf den König von Belgien und den Chefrabbiner des Landes, doch am stärksten beeindruckte ihn der muslimische Flughafentechniker Hassan Elouafi, der ihm kurz nach den Anschlägen ein Handy lieh. „Er heißt Hassan, ist belgischer Muslim, Vater von vier Kindern, Techniker am Brüsseler Flughafen“, schreibt er in einem Facebook-Post. „Hassan weinte in meinen Armen und sagte: „Ich bin so froh, dass Du lebst“. DIESER MANN IST KEIN TERRORIST. Er benahm sich wie ein normales menschliches Wesen. Ich werde in Israel einen Baum pflanzen für ihn, seine Frau und seine Kinder.“

Auch Elouafi, der ihn seither fast täglich besucht, ringt mit der Erinnerung an die traumatischen Stunden: „Alles war dunkel, Leute schrien. Ich dachte, ich sei in einem Albtraum“, erzählt er mit Tränen in den Augen. „Ich sah Walter, er litt und sagte immer wieder: 'Ich möchte mit meiner Mutter sprechen, ich möchte mit meiner Mutter sprechen.'“ Um ihm sein Handy zu reichen, musste Elouafi über Leichen steigen.

„Man kann mich kritisieren und sagen, dass ich Idealist bin, dass ich die muslimische Gemeinde verteidige“, sagt Benjamin, ein kahlköpfiger Mann mit dunkler Hornbrille. „Nun, ich denke noch immer, dass 99,99 Prozent der Muslime gute Menschen sind, Menschen wie Du und ich. Sie sind keine Terroristen.“

Die Attentate trafen 20 verschiedene Nationalitäten, darunter eine Deutsche kurz nach der Hochzeit, drei Mormonen-Missionare aus dem US-Bundesstaat Utah und zwei Mitglieder einer Jet Airways-Besatzung aus Indien. Viele Verletzte wurden in einem Militärkrankenhaus behandelt - ihre Verwundungen waren so schwer, dass nach Angaben eines Arztes einige Kollegen wohl psychologische Betreuung brauchen.


Benjamins ergreifende Posts

Benjamins ergreifende Posts machen deutlich, dass viele noch einen langen Weg vor sich haben. „Die Entlassung eines Patienten aus dem Krankenhaus bedeutet nicht das Ende der Behandlung“, sagt der Unfallchirurg David King am Massachusetts General Hospital, der Opfer der Anschläge beim Boston Marathon behandelte. „Die notwendige körperliche und seelische Genesung kann Monate, Jahre oder Jahrzehnte dauern.“

Dies bestätigt Sara Freedman, die an der Bar Ilan Universität nahe Tel Aviv Überlebende mit postraumatischer Belastungsstörung behandelt. Auch Unversehrte hätten nach einem Anschlag oft Albträume und Flashbacks, sagt sie: 35 Prozent der unverletzten Zeugen von Anschlägen leiden demnach an posttraumatischem Stress, verglichen mit 17 Prozent derer, die in Autounfälle verwickelt waren.

Benjamin ging von Anfang an in die Offensive: Kurz nach den Anschlägen gab er im belgischen Fernsehsender RTL sein erstes Interview, in dem er zum Miteinander der Religionen aufrief. „Die Leute begannen, es auf sozialen Medien zu posten, und dann kamen die ersten Nachrichten rein“, sagt er. „Die Leute schicken mir sogar Geschenke. Mental hilft mir das enorm. Manchmal bin ich bedrückt, dann lese ich alle meine Nachrichten und sehe, dass es noch Menschlichkeit gibt.“

Auch von Besuchern schreibt er in den Posts: „Ich sprach eine Stunde mit Louis, dem Krankenwagenfahrer, und er erzählte mir im Detail, wie es am 22. März losging, von der ersten SMS über eine Explosion im Flughafen bis zu den Rettungsmaßnahmen.“

Einige seiner Beiträge wurden tausendfach geteilt in einem Land, das noch immer unter Schock steht. Benjamin hatte so viele offene Freundschaftsanfragen auf Facebook, dass sein Profil keine weiteren zuließ. Auch auf negative Kommentare reagiert er: „Habt Ihr, deren Herz voller Wut ist, eine bessere Lösung als die, die ich vorschlage, nämlich zusammenzukommen, Brücken zu bauen? Mauern haben bisher immer versagt, wenn es darum ging, Missverständnisse zu vermeiden.“

Benjamin sagte, er würde sogar mit Salah Abdeslam reden, dem Hauptverdächtigen der Pariser Anschläge vom 13. November, der nur vier Tage vor den Brüsseler Attentaten festgenommen wurde. „Ich möchte wissen, was falsch gelaufen ist – nicht um zu rechtfertigen, was er getan hat“, betont er. „Aber vielleicht, um zu verhindern, dass eines Tages Millionen potenzieller kleiner Salahs auf unseren Straßen in Europa aufwachsen.“

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