Terroranschläge Die Stunde der Solo-Dschihadisten

Immer häufiger verüben Einzeltäter Attentate im Namen des Dschihad. So wird der Heilige Krieg zum Massenphänomen – zum Mitmachen für Jedermann. Dahinter steckt Strategie.

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In seinem Buch „Der globale Aufruf zum islamischen Widerstand“ fordert er auf 1.600 Seiten die Dezentralisierung des Dschihad.

Tel Aviv Ob in Würzburg, in Jerusalem oder in Boston: Es sind vor allem Einzeltäter, die Anschläge im Namen des Dschihad, des Heiligen Kriegs begehen. Beim Selbstmordanschlag in Ansbach sind die Hintergründe noch nicht klar, der Anschlag könnte jedoch islamistisch motiviert sein. Bisher deutet bei dem Anschlag in der bayrischen Stadt alles auf einen Alleingänger hin. Anders als früher unterwerfen die Terroristen sich nicht mehr einer Organisation wie Al-Qaida, der Hamas oder dem Islamischen Staat (IS). Sie warten keine Befehle aus den Terror-Zentralen im Nahe Osten ab, bevor sie die Blutspur legen.

Vordenker dieser Terror-Strategie ist Mustafa bin Abd al-Qadir Setmariam Nasar, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Abu Musab al-Suri. Er ist es, der die Dschihadisten-Welt verändert hat. In seinem einflussreichen Opus „Der globale Aufruf zum islamischen Widerstand“ („The Global Islamic Resistance Call“) forderte er auf 1.600 Seiten die Dezentralisierung des Dschihad. Was Suri vor elf Jahren predigte, setzen seine Jünger jetzt in die Tat um.

Einzeltäter sind nach Einschätzung der europäischen Polizeibehörde Europol eine wachsende Bedrohung in Europa. Solche „einsamen Wölfe“ seien im Vorfeld schwer ausfindig zu machen und zu stoppen, erklärte Europol in Den Haag. IS und von Al-Qaida setzen aber zunehmend auf derartige Angriffe, sie seien eine „bevorzugte Taktik“.

Einzeltäter könnten sehr empfänglich für die IS-Propaganda sein und sich schnell radikalisieren, so Europol. Viele von ihnen hätten auch eine psychische Störung. Wissenschaftliche Studien belegen, dass 35 Prozent der Einzeltäter von Anschlägen der vergangenen 15 Jahre psychisch gestört waren.

Als Suri sein Werk vor elf Jahren ins Internet stellte, war dies eine unmissverständliche Kampfansage an Al-Qaida, die damals den Dschihad dominierte. Die Organisation von Al-Qaida-Chef Osama bin Laden sei zum Scheitern verurteilt, warnte Suri, weil die hierarchischen Strukturen Al Kaida angreifbar gemacht hätten.

Der Heilige Krieg solle zu einem Massenphänomen werden, das von lokalen Zellen getragen wird – eine Art Jekami („Jeder kann mitmachen“) gewaltbereiter Islamisten. Nicht eine Kommandozentrale habe die Dschihadisten zusammenzuhalten, sondern ausschließlich der Glaube an den Koran. Al Suri erwähnt namentlich die Sure „Die Beute“, wo es heißt: „In die Herzen der Ungläubigen werde Ich Terror werfen. Trefft (sie) oberhalb des Nackens (also enthauptet sie) und schlagt ihnen jeden Finger ab!“


Hass im Exil

Suri, 1958 im syrischen Aleppo auf die Welt gekommen, studierte Ingenieurwissenschaften an der Universität seiner Geburtsstadt, was ihn später dazu befähigen sollte, an einem Handbuch über Explosionstechniken mitzuarbeiten. Radikalisiert wurde er 1982 nach dem Massaker von Hama, dem syrischen Zentrum der Muslimbrüder. Dort ließ der syrische Herrscher Hafez el-Assad 20.000 bis 30.000 Islamisten umbringen, weil er einen Putsch der Islamisten gegen sein Regime befürchtete.

Suri, der sich nach seiner Studentenzeit den Muslembrüdern angeschlossen hatte, setzte sich schockiert nach Spanien ab, wo er später die Staatsbürgerschaft erhielt. Statt sich aber in seiner neuen Heimat zu integrieren, wandte er sich gegen die Gesellschaft. Er wird verdächtigt, die Attentate auf Züge in Madrid und und auf die Métro in Paris und London mitorganisiert zu haben, ebenso die Angriffe auf Amerika vom 11. September 2011 – stets im Auftrag von Al-Qaida, von der er sich aber in der Folge distanzierte.

Der von Suri stattdessen propagierte „führungslose Widerstand“ von Individuen oder von kleinen autonomen Gruppen hat das Ziel, den Feind überall auf der Welt mürbe zu machen, bis der Islam in allen Staaten erfolgreich die Macht übernehmen könne. Suris dezentrale Strategie wurde von Al-Qaida übernommen, und auch der IS propagiert inzwischen den individuellen Dschihadismus.

Im Gegensatz zu Europol sehen andere Experten eine Chance, die Anschläge von Solo-Dschihadisten zu verhindern: Es sei möglich, Terroristen, die auf eigene Faust handeln, rechtzeitig zu erkennen, sagt Clare Lopez vom Washingtoner Center for Security Policy. Das verbrecherische Vorhaben zeichne sich im Vorfeld ab – entweder durch eine auffällige Verhaltensänderung oder durch eine Radikalisierung.

Terroristen setzten zudem oft ihr engeres Umfeld über ihr mörderischen Vorhaben in Kenntnis - sei es bewusst oder unbeabsichtigt. Sie weihten zum Beispiel enge Freunde oder Familienmitglieder ein. Andere kündigten ihre Absichten im Internet an.
Man könne also davon ausgehen, dass einsame Wölfe nicht losgelöst von ihrem sozialen Umfeld handelten, so Lopez. Sie seien zwar schwieriger aufzuspüren als „traditionelle“ Terroristen, die aus Dschihadisten-Zentralen Befehle empfangen, mit Geld und Waffen versorgt werden oder untereinander Botschaften austauschen. Die Interaktion mit anderen macht sie aber verwundbar, meint Terror-Experte John A. Ture vom La Grange College in Georgia.

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