Terroranschläge in Brüssel Warum der IS den Westen terrorisiert

Der IS hat nach Bodenverlusten in Syrien seine Strategie geändert. Anschläge in Brüssel und Paris sollen der Terrormiliz internationale Aufmerksamkeit bescheren. Nicht zuletzt, weil der IS unter Wettbewerbsdruck steht.

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Das nordsyrische Rakka gilt als Hauptstadt des Islamischen Staates. Die Terrormiliz musste in den vergangenen Monaten empfindliche Rückschläge hinnehmen. Quelle: AP

Istanbul Über Tage herrschte Rätselraten, ob „Omar der Tschetschene“ tatsächlich tot ist. Der Extremist mit dem bürgerlichen Namen Tarkan Batiraschwili gehörte dank seines auffälligen roten Bartes zu den bekanntesten Gesichtern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Anfang März traf ein Luftschlag der USA in Syrien den mit Kopfgeld weltweit gesuchten Extremisten. Wenige Tage später dann meldeten Aktivisten, Omar der Tschetschene sei seinen Verletzungen erlegen. Der IS verlor einen seiner markantesten Anführer.

Es ist einer der vielen Rückschläge, die die Terrormiliz in den vergangenen Monaten einstecken musste. Vor diesem Hintergrund dürfte die spektakuläre Anschlagserie am Dienstag in Brüssel auch dazu gedient haben, weltweit Aufsehen zu erregen und einen Erfolg nachzuweisen. Zahllose Tote und Verletzte, insgesamt fast 300 Opfer im Herzen der EU mit dieser blutigen Bilanz wird sich die menschenverachtende Terrorgruppe wohl noch lange brüsten.

Doch es ist nur einer von vielen Anschlägen außerhalb des vom IS ausgerufenen Kalifats. Dem vorausgegangen waren bereits Attacken auf einen Strand in Tunesien, die Explosion eines russischen Flugzeugs über der Sinai-Halbinsel, die verheerenden Angriffe in Paris im November oder solche in der Türkei vor wenigen Wochen. Sie alle sind Anschläge auf sogenannte weiche und damit einfache Ziele für die Terroristen. Nur selten sind diese Anschlagsorte geschützt, dafür zumeist gut besucht. Blutige Erfolge sind damit garantiert. All das mit einem Ziel: weitere radikalislamische Anhänger gewinnen.

All das gehöre zu einer neuen Strategie des Islamischen Staats, sagte Guido Steinbach, Experte für den Nahen und Mittleren Osten, dem Handelsblatt. „Weil der Islamische Staat seine Kerngebiete verliert, verlagert er die Front unter anderem nach Europa“. Die Terrormiliz hat in Syrien und Irak an Boden verloren.

Die Terrormiliz stehe „militärisch massiv unter Druck“, sagte Terrorismusexperte Rolf Tophoven. Mit den Angriffen in Europa wolle der IS davon „bewusst ablenken“, sagte Tophoven dem Handelsblatt. „Das sind taktische Ausfalloperationen.“ Er sieht in den Brüsseler Anschlägen auch eine Reaktion auf die Festnahme Salah Abdeslams, der als einer der Drahtzieher der Pariser Anschläge gilt und kürzlich in Brüssel festgenommen worden war. „Die Pläne für den Anschlag lagen schon in der Schublade und wurden dann auf Knopfdruck aktiviert“, sagte er.


Der IS ist noch lange nicht besiegt

Vor einem Jahr noch hatte es so ausgesehen, als wenn sich der Siegeszug der sunnitischen Extremisten in Syrien und Irak immer weiter fortsetzen würde. Im Mai 2015 konnten IS-Kämpfer die westirakische Provinzhauptstadt Ramadi einnehmen und der Armee des Landes eine nicht nur symbolische Niederlage zufügen. Doch seitdem bleiben die großen Siege aus. Mehr noch: In beiden Ländern haben die Extremisten empfindliche Niederlagen einstecken müssen.

So ist Ramadi mittlerweile wieder unter Kontrolle der irakischen Regierungsanhänger. Auch in Syrien hat der IS an Territorium verloren. Vor allem die Kurden-Miliz YPG, die mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK verbunden ist, konnte im Norden des Bürgerkriegslandes große Gebiete von den Extremisten einnehmen. Dank Luftunterstützung der US-geführten internationalen Koalition kontrollieren mittlerweile die Kurden den größten Teil der Grenze zur Türkei - und damit die für den IS so wichtigen Nachschubwege. „Sowohl im Irak als auch in Syrien kann man die Niederlage schon absehen“, sagt Steinbach. „Besonders im Irak sind sie bereits auf dem Rückzug.“

Laut Schätzungen des militärischen Branchendienstes „IHS Jane's Conflict Monitor“ verlor der IS allein im vergangenen Jahr rund 14 Prozent seines Herrschaftsgebietes. Längst laufen die Vorbereitungen für eine Offensive auf die wichtigste IS-Hochburg, die nordirakische Millionenstadt Mossul. Sollten die Extremisten diese verlieren, dürfte die Terrormiliz ihre Herrschaft mit quasistaatlichen Strukturen in Syrien und im Irak kaum noch aufrechterhalten können.

Die Dschihadisten haben auf diese Entwicklung reagiert und schon vor einiger Zeit damit begonnen, ihre Strategie anzupassen und sich zu internationalisieren. Das geschieht nicht nur mit Anschlägen in anderen Ländern wie Europa, sondern auch mit dem Vorrücken in andere Staaten wie Libyen. „Die Miliz exportiert damit einen eigentlich regionalen Konflikt“, sagte Tophoven. Je mehr die Extremisten in Syrien und im Irak unter Druck geraten, desto mehr verlagern sie ihre Aktivitäten in andere Staaten.

Die Terrormiliz muss Erfolge nachweisen, um nicht an Anziehungskraft gegenüber ihren Anhängern einzubüßen. Dabei steht der IS in einem Wettbewerb um die Führung im weltweiten Dschihad. Schärfster Konkurrent ist das mit dem IS verfeindete Terrornetzwerk Al-Kaida. Um seine Führungsposition zu verteidigen, versucht der IS, Rückschläge am Boden durch Feldzüge und Anschläge in anderen Ländern auszugleichen, die ihm weltweite Aufmerksamkeit bescheren. Auch die Verbreitung brutaler Enthauptungsvideos passt in dieses Schema.

Schon vor langem ist das nordafrikanische Bürgerkriegsland Libyen zum Ziel vieler IS-Dschihadisten geworden, um ihren Machtbereich auszudehnen. Steinbach erklärt: „Weil der IS seine Kerngebiete verliert, breitet er sich dorthin aus, wo er Platz hat.“ Das seien vor allem Länder, in denen instabile, fragile oder gar keine staatlichen Strukturen bestehen.

Das gilt zweifelsohne für Libyen. Und Steinbach macht noch einen Grund aus, sich gerade im nordafrikanischen Staat anzusiedeln: die Nähe zu Europa. „Über das Mittelmeer hinweg hoffen die Krieger des IS, weiterhin Anschläge in Europa verüben zu können.“ Der Westen muss sich auf weitere Anschläge gefasst machen.

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