Terrorismus während der EM Frankreichs neue Realität

Für Frankreich werden schlimme Befürchtungen wahr: Ein Terrorakt, Gewaltorgien von Hooligans und neue Proteste gegen die Arbeitsreform – alles kommt auf einen Schlag. Die Franzosen reagieren auf ihre ganz eigene Art.

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Kein Panik: Die Pariser, die gezeichnet sind von den beiden Anschlägen des vergangenen Jahres, zeigen eine bewundernswerte Kaltblütigkeit – trotz des neuen Anschlags. Quelle: dpa

Nach dem Mord eines vorbestraften Islamisten an einem Polizistenpaar hat die französische Regierung keine beruhigende Botschaft für die eigene Bevölkerung. Sie reagiert auch nicht mit dem sonst üblichen Aktionismus. „Wir können nicht nach jedem Vorfall nach neuen, zusätzlichen Kräften rufen“, sagte Premier Manuel Valls bei einem Statement vor der Nationalversammlung.

Er appelliert an den Realitätssinn der Franzosen: „Mit den Anschlägen von 2015 sind wir in eine andere Epoche eingetreten, die Zeit der Sorglosigkeit ist vorbei.“ Es gebe eine weltweite Bedrohung, wie der Anschlag in Florida gezeigt habe, und „der Krieg gegen den Terrorismus, in dem wir stehen“, verlange „Entschiedenheit und einen langen Atem“.

Der 25-jährige Larossi Abballa hatte am späten Montagabend einem Polizisten vor dessen Haus in Magnanville bei Paris aufgelauert und ihn mit einem Messer erstochen. Nachdem er in das Haus eingedrungen war, ermordete er auch die Frau des Polizisten. Er verbreitete ein Video des getöteten Beamten, in dem er sagt, er wisse noch nicht, was er mit dem dreijährigen Kind des Paares machen solle. Gegen Mitternacht wurde Abballa im Haus von Angehörigen des Einsatzkommandos RAID erschossen. Das Kind wurde unter Schuck, aber unverletzt gefunden. Am Dienstag sind zwei Personen festgenommen worden, die dem mutmaßlichen Attentäter nahestehen sollen. Das teilten die Behörden mit.

Der frühere Anti-Terrorrichter Marc Trevidic sagt in einem Interview mit Le Figaro, er habe 2013 die Ermittlungen gegen Abballa und fünf weitere Personen geleitet, die ein Netzwerk für die Reise von Franzosen in Ausbildungslager der Islamisten in Pakistan gegründet hatten.

Zwei von ihnen seien nach Pakistan gereist und dort sofort festgenommen worden. Abballa selber sei in Frankreich geblieben und von seinen Mitangeklagten entlastet worden. „Es gab nicht viel Konkretes, was man ihm vorwerfen konnte“, sagt Trevidic. Schließlich wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, von denen er zwei absaß. In jüngster Zeit wurde er von der Polizei beobachtet, weil der Verdacht bestand, dass er an einem neuen Netzwerk für die Rekrutierung von Franzosen für die Reise in vom „Islamischen Staat“ kontrollierte Gebiete in Syrien beteiligt war.

Die 7 Geldquellen des IS

Der IS hat den Mordanschlag sofort als sein Werk bezeichnet. Abballa muss das Polizisten-Ehepaar schon länger beobachtet haben. Der Beamte war in Zivil, als er am Montagabend nach Hause kam. Innenminister Bernard Cazeneuve sagte: „Eventuelle Hintermänner und Komplizen des Attentäters werden wir unschädlich machen.“ Am Mittag wurden zwei Personen verhaftet, von denen noch unklar ist, ob sie tatsächlich Komplizen waren. Die Eltern von Abballa sind seit drei Monaten in ihrer Heimat Marokko. Bei einer ersten Durchsuchung ihrer Wohnung, in der auch der Sohn gewohnt hatte, wurden keine Waffen gefunden.


Von Panik keine Spur


Für die französische Regierung werden mit dem Anschlag schlimme Befürchtungen wahr: Ein Terrorakt, Gewaltorgien von Hooligans und anhaltende Proteste gegen die Arbeitsreform, alles kommt auf einen Schlag. Staatspräsident François Hollande und Premier Manuel Valls zögerten am Dienstag nicht, den Mord im Vorort von Paris als Terrorakt einzustufen. Sie spielen nichts herunter, bemühen sich aber sichtlich darum, Vertrauen in die Sicherheitskräfte zu wecken und verweisen darauf, dass es sich eben um eine weltweite Bedrohung handelt: Das Massaker in der Diskothek von Orlando habe gezeigt, dass überall Terrorakte möglich sind. „Trotzdem feiern wir ein Fest mit der Fußball-Europameisterschaft“, machte Valls die Ambivalenz der Lage deutlich.

Die Pariser, die gezeichnet sind von den beiden Anschlägen des vergangenen Jahres, zeigen eine bewundernswerte Kaltblütigkeit. Von Panik keine Spur, die Franzosen bleiben gelassen. Sie kennen die Gefahr, sie wissen, dass die Ausrichtung der EM in Frankreich ein Risiko ist, aber sie sind damit einverstanden. Sie nehmen sogar hin, dass die Müllleute streiken – vielleicht auch deshalb, weil in einem dieser merkwürdigen Arrangements die Tonnen eben doch ab und zu geleert werden. Französische Lebensart verlangt es, sich über die Behinderung durch Streiks zu ärgern, sie aber als Ausdruck bürgerlicher Rechte zu tolerieren.

Anders ist es mit den Ausschreitungen am Rande der Spiele, die große Verärgerung auslösen. Vor allem die extrem gut organisierten russischen Schläger machen der Polizei zu schaffen. Auf die Russen war man nicht gut genug vorbereitet. Französische Sicherheitskräfte beschweren sich darüber, dass Wladimir Putins Polizei nur eine lächerliche Liste mit 33 Namen von Verdächtigen geschickt habe.

Deutlich besser läuft die Zusammenarbeit mit den Deutschen. Am Mittwoch kommt Bundesinnenminister Thomas de Maizière nach Paris. Er wird mit seinem französischen Kollegen Cazeneuve vor einem Ausschuss der Nationalversammlung reden, an der regulären Kabinettssitzung teilnehmen und anschließend deutsche Polizisten treffen, die als „Spotter“ bei der EM eingesetzt sind, um deutsche Hooligans zu beobachten.

Als lebten sie in einem anderen Land, scheren sich die radikalen Gewerkschaften nicht um die Ausnahmesituation. Sie haben den Dienstag zum Tag einer neuen, massiven Mobilisierung gegen die Arbeitsreform der sozialistischen Regierung erklärt. „Wir werden zeigen, dass wir noch Reserven haben, um mehr Leute auf die Straße zu bringen“, hatte der Chef der Gewerkschaft CGT Philippe Martinez im Vorfeld gedroht. Am Dienstvormittag allerdings sah es nicht danach aus: Der öffentliche Nahverkehr, eigentlich eine Hochburg der CGT, funktionierte weitgehend reibungslos.

Sollte die für den Nachmittag angesetzte Demonstration nicht mehr Menschen auf die Straßen bringen als in den vergangenen Wochen, könnte der Dienstag zum Auftakt eines langsamen Abklingens der Proteste werden. Die Regierung und die Sicherheitskräfte wären dann zumindest an dieser Front entlastet.

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