Treffen mit Tsipras in Griechenland Erdogans Charmeoffensive

Recep Tayyip Erdogan kommt nach Athen, zum ersten Besuch eines türkischen Staatsoberhaupts seit 65 Jahren. Griechenland hofft auf bessere Beziehungen. Die Visite zeigt auch: Deutschlands neue Türkei-Politik zeigt Wirkung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Am Donnerstag treffen Alexis Tsipras und Recep Tayyip Erdogan erstmals in Athen aufeinander. Vergangenes Jahr hatten sie sich in New York unterhalten. Quelle: AP

Istanbul, Athen Wenn der türkische Präsident seinen Regierungs-Airbus besteigt, gehen die Piloten nach dem Start vom Flughafen Ankara Esenboga meist auf Kurs nach Osten. Seine letzten Flüge führten Erdogan nach Sotschi, Katar und Kuwait. Europa besucht er selten. Jetzt geht die Reise aber doch einmal nach Westen, ein wenig zumindest. Am Donnerstagmorgen landet Erdogan im benachbarten Athen. Der türkische Staatschef hat zwar eine schriftliche Einladung seines griechischen Amtskollegen Prokopis Pavlopoulos.

Aber nicht die griechische Seite hatte die Idee zu diesem Besuch. Bei einem Treffen mit dem griechischen Außenminister Nikos Kotzias Ende Oktober in Ankara äußerte Erdogan den dringenden Wunsch, so bald wie möglich nach Athen zu kommen. Mit der Visite beim griechischen Premier Alexis Tsipras dürfte Erdogan die Hoffnung verbinden, ein Stück weit die Isolation zu durchbrechen, in die sein Land durch die jüngsten Spannungen mit der Europäischen Union und Washington geraten ist.

Überschattet wird der Besuch allerdings von Gebietsansprüchen der Türkei gegenüber Griechenland. In einem am Mittwochabend ausgestrahlten Interview des griechischen Senders Skai-TV forderte Erdogan eine „Aktualisierung“ des Vertrages von Lausanne. Das 1923 geschlossene Abkommen regelt unter anderem den Grenzverlauf zwischen beiden Ländern. Erdogan erläuterte in dem Interview nicht, in welchen Punkten er den Vertrag neu aushandeln will.

Die Türkei erhebt aber seit Jahrzehnten Ansprüche auf Ägäisinseln, die bisher zu Griechenland gehören. Der griechische Regierungssprecher Dimitris Tzanakopoulos kritisierte, Erdogans Forderung trage „nicht zu dem Klima bei, das wir in unseren Beziehungen und in der Region aufbauen möchten“. Die griechische Regierung hoffe, der Besuch des türkischen Präsidenten werde helfen, „Brücken zu bauen und nicht Mauern hochzuziehen“, sagte der Sprecher.

Der letzte Besuch eines türkischen Staatsoberhaupts in Griechenland datiert aus dem Jahr 1952. Damals kam Präsident Celal Bayar nach Athen. Es war das Jahr des Beitritts der beiden „Erbfeinde“ zur Nato. Dass seither 65 Jahre ohne Staatsbesuch vergingen, zeigt: Die Beziehungen der beiden Nachbarländer sind von Normalität immer noch weit entfernt. Die Fremdherrschaft der Osmanen über Hellas ging zwar schon vor fast 200 Jahren zu Ende, wirkt aber in Griechenland immer noch als Trauma nach – nicht zuletzt wegen der türkischen Zypern-Invasion von 1974.

Anfang 1996 kam es wegen des Streits um zwei unbewohnte Ägäisinseln sogar fast zu einem Krieg der beiden Bündnispartner. Der damalige U.S.-Präsident Bill Clinton konnte die Krise in nächtlichen Telefonaten mit Ankara und Athen gerade noch einmal entschärfen. Seither haben sich die Beziehungen entspannt. Diplomaten beider Länder treffen sich regelmäßig zu Konsultationen. Aktuell arbeitet man an drei Projekten: Einer Fährverbindung zwischen Izmir und Thessaloniki, einer Hochgeschwindigkeitstrasse von Nordgriechenland nach Istanbul und einer Brücke über den Grenzfluss Evros (türkisch: Meric).

Die bilateralen Probleme, wie der Streit um die Wirtschaftszonen und Hoheitsgebiete in der Ägäis und im ägäischen Luftraum, sind aber weiter ungelöst. Auch in der Zypernfrage zeichnet sich kein Kompromiss ab, nachdem im Juli Vereinigungsgespräche zwischen beiden Volksgruppen auf der geteilten Insel wieder einmal scheiterten. Mit dem Putschversuch in der Türkei vom Juli 2016 ist die Liste der bilateralen Konflikte noch länger geworden. Über 1000 Türken sind vor Erdogans „Säuberungen“ bereits nach Griechenland geflohen, darunter acht Soldaten, die sich am Tag nach dem Putschversuch mit einem Militärhubschrauber ins nordgriechische Alexandroupolis absetzten. Erdogan verlangt ihre Auslieferung. Tsipras verweist auf die Unabhängigkeit der griechischen Gerichte, die den Geflüchteten Asyl gewährten.

Weder in dieser Frage noch in den anderen griechisch-türkischen Problemen wird es bei diesem Besuch nennenswerte Bewegung geben. Seine Bedeutung geht aber ohnehin weit über das Bilaterale hinaus. Westliche Diplomaten in Athen meinen, es gehe Erdogan vor allem darum, neue Brücken zur EU zu bauen. Insofern sei die Visite eine Antwort Erdogans auf die neue deutsche Türkei-Politik. Sie hat dazu geführt, dass die türkische Regierung in den vergangenen Monaten in Europa immer weiter ins Abseits geraten ist. Dass Erdogan mit seinem Brückenbau in Athen beginnt, ist kein Zufall.


Griechenland will Erdogan zähmen

Griechenland ist mehr als jedes andere EU-Land auf gute Beziehungen zur Türkei angewiesen. Seit jeher unterstützen die griechischen Regierungen die Beitrittsperspektive der Türkei – in der Hoffnung, den übermächtigen und oftmals aggressiv auftretenden Nachbarn so zähmen zu können. Dieser Gesichtspunkt ist angesichts der Flüchtlingskrise wichtiger denn je. Bricht das im Frühjahr 2016 zwischen der EU und Ankara ausgehandelte Flüchtlingsabkommen zusammen, muss Griechenland fürchten, von einer neuen Migrationswelle überrollt zu werden. Schon deshalb ist Tsipras dringend daran interessiert, den Dialog zwischen Ankara und der EU aufrecht zu erhalten.

Auch Erdogan dürfte, trotz aller offensichtlichen Abneigung gegenüber Europa, inzwischen eingesehen haben, dass sich sein Land einen totalen Bruch mit der EU schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten kann. Die türkische Strategie in der Europapolitik ist allerdings höchst widersprüchlich. Erdogan betont regelmäßig, dass die Türkei eine Mitgliedschaft in dem europäischen Staatenbund gar nicht nötig habe. In der Türkei kommt es seit Jahrzehnten beim Volk gut an, wenn sich politische Führer von der bei Türken eher unbeliebten EU distanzieren. Unterdessen erklären andere Entscheidungsträger wie Vizepremier Mehmet Simsek, der EU-Beitritt sei nach wie vor das strategische Ziel Ankaras. Simsek ist innerhalb der türkischen Regierung für die wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich und weiß, welchen wichtigen Anker Europa für die türkische Wirtschaft darstellt.

In Ankara hofft man, dass die Verhandlungen über eine Vertiefung der Zollunion doch noch in Gang kommen, obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Frage einstweilen bremst. Für die türkische Wirtschaft wäre die Erweiterung des Abkommens von großem Vorteil. Auch in der Frage der Visafreiheit will die Türkei einen neuen Anlauf unternehmen. Im Rahmen des Flüchtlingsabkommens hatte die EU Ankara zugesagt, die für türkische Staatsbürger geltende Visapflicht abzuschaffen. Im Gegenzug sollte die Türkei ihre Anti-Terror-Gesetze lockern, was aber bisher nicht geschehen ist.

Bei diesen Themen könnte Tsipras für die türkische Regierung ein wichtiger Mittler sein. Das würde zugleich eine Aufwertung des griechischen Premiers in Europa bedeuten. Dennoch sieht man dem Erdogan-Besuch in Athen mit einiger Nervosität entgegen. Politische brisant ist vor allem der für Freitag geplante Abstecher Erdogans ins nordgriechische Komotini. Hier, in Westthrazien, leben gut 100.000 griechische Staatsbürger muslimischen Glaubens. Griechenland erkennt sie als religiöse Minderheit an. Die Türkei hingegen spricht von ethnischen Türken, die benachteiligt werden, und betrachtet sich als ihre Schutzmacht. Die Rolle des Beschützers für Auslandstürken spielt Erdogan besonders gern, wie man nicht zuletzt in Deutschland weiß.

Der türkische Staatschef gilt als schwere berechenbar. Wie wird er während seines Griechenland-Besuchs auftreten? Manche fürchten, er könnte seine harsche anti-westliche Rhetorik auf EU-Boden fortsetzen. Das würde Tsipras innen- und außenpolitisch in Verlegenheit bringen. Die meisten Diplomaten und Kommentatoren erwarten indes, dass Erdogan seine Visite an der Akropolis zu einer Charmeoffensive nutzt und konziliantere Töne im schwer gespannten Verhältnis zur Europäischen Union anschlägt.
Sicher ist: Der Besuch in Athen ist nur der erste Schritt. Die nächste Reise nach Westen ist bereits in Vorbereitung. Sie soll Erdogan demnächst nach Paris führen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%