Türkei auf dem Weg zum Präsidialsystem Alle Macht für Erdogan

Mit einer Verfassungsänderung zieht Erdogan weitere Kompetenzen an sich. Der türkische Staatschef kann das Land künftig im Alleingang regieren. Das alarmiert nicht nur die Opposition, sondern auch die Wirtschaft.

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Mit dem Gesetz will Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Machtbefugnisse massiv ausweiten. Quelle: AFP

Athen Weichenstellung in Ankara: Die Türkei steht vor dem tiefsten politischen Einschnitt seit Einführung der Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit einer Verfassungsänderung will Staatschef Recep Tayyip Erdogan seine Macht zementieren – auf mehr als ein Jahrzehnt. Die ultra-nationalistische MHP unterstützt Erdogans Pläne. Die größte Oppositionspartei CHP fürchtet dagegen, die Türkei werde in eine Diktatur abgleiten.

Am späten Samstagnachmittag brachte die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) den lange erwarteten Entwurf einer Verfassungsänderung im Parlament ein. Im Januar könnte über die Vorlage abgestimmt werden. Die erforderliche Mehrheit von 330 der 550 Stimmen in der Nationalversammlung gilt als gesichert, nachdem die MHP ihre Unterstützung zugesagt hat. Anschließend muss die Verfassungsänderung noch in einer Volksabstimmung von den Wählern gebilligt werden. Das Referendum könnte im Frühjahr stattfinden. An der Zustimmung gibt es keine Zweifel angesichts der großen Popularität Erdogans: Umfragen zufolge unterstützen rund 60 Prozent der Wähler seine Präsidentschaftspläne.

Mit der Verfassungsänderung sichert sich Erdogan jene Befugnisse, die er sich unter dem Ausnahmezustand, der seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli gilt, ohnehin bereits genommen hat – und noch einige Kompetenzen darüber hinaus.

Die beiden wichtigsten Veränderungen: Das Amt des Premierministers wird abgeschafft. Seine Kompetenzen werden dem Präsidenten übertragen, der seine Minister nach Gutdünken berufen und entlassen kann. Während das Staatsoberhaupt bisher laut Verfassung zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet war, kann der Präsident künftig in Personalunion auch Parteichef sein.

Erdogan kann nach der neuen Verfassung künftig mit Dekreten weitgehend am Parlament vorbei regieren. Nachdem er sich unter dem Ausnahmezustand bereits das Recht genommen hat, die Rektoren der türkischen Universitäten im Alleingang zu berufen, wird er künftig auch die Hälfte der Richter der obersten Gerichte berufen.

Während die Tage von Ministerpräsident Binali Yildirim als Regierungs- und Parteichef mit der Einführung des Präsidialsystems gezählt sind, kann sich Erdogan auf eine lange Karriere freuen. Die Änderungen sollen 2019 in Kraft treten, nach dem Ende seiner laufenden Amtszeit als Staatsoberhaupt. Er könnte dann bei zeitgleich anberaumten Parlaments- und Präsidentenwahlen erneut antreten. An seiner Wiederwahl gibt es aus heutiger Sicht so gut wie keinen Zweifel. Erdogan kann, wenn er 2024 eine zweite Amtszeit gewinnt, die Türkei bis 2029 regieren. Er wäre dann seit seiner ersten Wahl zum Ministerpräsidenten Anfang 2003 fast doppelt so lang an der Staatsspitze wie der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, der das Land von 1923 bis 1938 regierte.

Premierminister Yildirim warb am Freitag bei einer Kundgebung im nordtürkischen Zonguldak für das Präsidialmodell: Es werde die Türkei vor Umsturzversuchen wie am 15. Juli bewahren. „Wir arbeiten daran, das System zu ändern, um sicherzustellen, dass die Instabilität für immer aus der politischen Geschichte der Türkei verschwindet.“ Aber um welchen Preis?


Erdogan verunsichert die Wirtschaft

„Ist es richtig, alle Macht einem Mann in die Hand zu geben?“, fragte der CHP-Vorsitzende und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu diese Woche in einem Fernsehinterview – und gab selbst die Antwort: „‘Ich bin der Staat‘, das war das Motto Hitlers.“ Kilicdaroglu warf der AKP und den Ultra-Nationalisten der MHP, den berüchtigten „grauen Wölfen“, vor, sie wollten „die Türkei dem Ego eines Mannes ausliefern“.

Erdogan selbst rechtfertigte die Einführung des Präsidialsystems, an der er seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August 2014 arbeitet, stets damit, die Exekutive müsse in einer Hand konzentriert sein, um politische Reibungsverluste zu vermeiden und Entscheidungen zu beschleunigen. Davon werde vor allem die Wirtschaft profitieren. Auch der für Wirtschafts- und Finanzfragen zuständige Vizepremier Mehmet Simsek warb kürzlich im Gespräch mit deutschen Journalisten in Istanbul mit dem Argument für die Verfassungsänderung, das Präsidialmodell werde für „stabile Rahmenbedingungen“ sorgen und „politische Handlungsfähigkeit garantieren, ungeachtet möglicher Fragmentierungen im Parlament“.

Simsek spielte damit auf die turbulenten 70er, 80er und 90er Jahre an. Damals überdauerten Regierungen in der Türkei wegen der Zersplitterung des Parlaments oft nicht einmal ein Jahr. Darunter litt auch die Wirtschaft. Stabile politische Verhältnisse hat das Land erst seit dem Wahlsieg von Erdogans AKP Ende 2002, die seither das Land ununterbrochen regiert. Während der Erdogan-Ära erlebte die Türkei den längsten und steilsten wirtschaftlichen Aufschwung ihrer jüngeren Geschichte.

Der Boom am Bosporus lässt aber bereits seit einigen Jahren nach: Während das Land zwischen 2002 und 2007 Wachstumsraten von durchschnittlich sieben Prozent verzeichnete, sind es seit 2008 im Mittel nur noch 4,7 Prozent. Aktuell drücken die Welle von Terroranschlägen, die Zinswende im Dollarraum und die politischen Turbulenzen nach dem Putschversuch aufs Wachstum. In diesem Jahr dürfte die Wirtschaftsleistung nur um etwa 2,5 Prozent zulegen – viel zu wenig für ein Schwellenland wie die Türkei, die fünf bis sechs Prozent Wachstum braucht, um die Beschäftigung zu sichern. Ein Alarmsignal: Die Arbeitslosenquote liegt derzeit mit rund elf Prozent bereits auf dem höchsten Stand seit dem Krisenjahr 2009.

Die Wachstumsschwäche ist vor allem ein Resultat jahrelang aufgeschobener Strukturreformen. Erdogan scheint aber vor allem mit der Jagd auf seine Kritiker und Gegner beschäftigt. Am Samstag stellte die Staatsanwaltschaft Istanbul Haftbefehle gegen weitere 55 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zum Erdogan-Widersacher Fethullah Gülen aus, unter ihnen Geschäftsleute und Fluglotsen. Seit dem Putschversuch wurden bereits 80.400 Menschen festgenommen, fast 40.000 sitzen in Untersuchungshaft, 115.400 Staatsdiener wurden entlassen oder suspendiert.

Erdogans Säuberungen verunsichern die Wirtschaft. Rund 600 Firmen ließ der Staatschef bereits wegen angeblicher Verbindungen zu seinem Erzfeind Gülen unter staatliche Zwangsverwaltung stellen. Der Wert der enteigneten Unternehmen wird auf zehn Milliarden Dollar geschätzt. Vor diesem Hintergrund sehen viele Wirtschaftsführer die geplante Verfassungsänderung mit gemischten Gefühlen. „Investoren brauchen vor allen Rechtssicherheit“, sagt ein deutscher Firmenchef in Istanbul, der, wie viele Erdogan-Kritiker, lieber anonym bleiben möchte. „Die Konzentration von immer mehr Macht in einer Hand trägt dazu nicht gerade bei“, fürchtet der Unternehmer.

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