Türkei-Deal Schwieriges Treffen in Istanbul

Die Kanzlerin wird heute mit Erdogan über das Flüchtlingsabkommen und die Lage in der Türkei sprechen. Die Bundesregierung rechnet einem Bericht zufolge frühestens für 2017 mit der Visafreiheit.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan müssen sich in wichtigen Fragen annähern – sonst droht ein Scheitern des Flüchtlingspakts. Quelle: dpa

Istanbul Kanzlerin Angela Merkel will an diesem Montag mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Wege aus dem Streit über den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei suchen. Zugleich dürfte sie bei dem Treffen in Istanbul den Beschluss des türkischen Parlaments ansprechen, gut einem Viertel der Abgeordneten die Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung abzuerkennen. Anlass der Reise ist ein Nothilfegipfel der Vereinten Nationen (Uno). Bei dem Gipfel geht es um eine bessere Koordinierung der Hilfe für die 125 Millionen Menschen, die laut UN auf Hilfe angewiesen sind.

Merkel kündigte an, mit Erdogan über „alle wichtigen Fragen“ zu reden. Über die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei äußerte sich die Kanzlerin in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ besorgt. Merkel kritisierte, der Beschluss des türkischen Parlaments sei mit schwerwiegenden Folgen für kurdische Politiker verbunden.

Zugleich wies sie den Vorwurf auch aus den eigenen Reihen zurück, sie habe sich mit dem Flüchtlingsabkommen einseitig in Abhängigkeit zur Türkei begeben. Sie machte aber deutlich, dass sie dennoch auf die Umsetzung des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei baut. Doch weil Erdogan die Forderung der EU ablehnt, vor einer Visumliberalisierung die Anti-Terror-Gesetze des Landes zu ändern, steht der Flüchtlingspakt schon zwei Monate nach dem Start auf der Kippe. Das von Merkel maßgeblich vorangetriebene Abkommen sieht vor, dass Flüchtlinge, die aus der Türkei auf griechische Inseln übersetzen, zurückgeschickt werden. Für jeden syrischen Flüchtling soll ein anderer Syrer legal aus der Türkei in die Europäische Union einreisen dürfen.

Die Bundesregierung geht nach einem Bericht der „Bild“-Zeitung (Montag) nicht mehr davon aus, dass die Visafreiheit für die Türkei zum 1. Juli umgesetzt werden kann. Die Zeitung zitierte unter Berufung aus Regierungskreisen, dass Ankara die für die Visafreiheit nötigen Voraussetzungen nicht vor Jahresende erfüllen könne. Ein Grund seien die festgefahrenen Verhandlungen zwischen EU und Türkei über die Umsetzung der Bedingungen für die Visafreiheit.

„Wir erleben, dass die Türkei unter Erdogan auf dem Weg in einen Ein-Mann-Staat ist“, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Montag). „Die Bundeskanzlerin und die EU-Regierungschefs müssen dem türkischen Präsidenten ganz klar sagen, dass seine Politik nicht mit den europäischen Grundwerten vereinbar ist.“


Merkel traf am Sonntag Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft

CSU-Chef Horst Seehofer warnte: „Der Zweck heiligt nicht alle Mittel.“ In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ betonte er, man dürfe sich nie abhängig machen „von solchen Systemen“ oder gar erpressen lassen. Mit Blick auf die Vorgänge im türkischen Parlament meinte Seehofer: „Da müsste die ganze Welt aufschreien.“

Auch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann forderte eine klare Ansage Merkels an Erdogan. „Dazu darf Deutschland nicht schweigen“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte: „Merkel darf vor Erdogan nicht einknicken, nur damit er ihr und Europa weiter die Flüchtlinge vom Hals hält.“ Die Vorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, kritisierte, die Kanzlerin habe „das Schicksal der EU von einem Despoten abhängig gemacht“.

Direkt nach ihrer Ankunft in der Metropole Istanbul beriet Merkel ungewöhnlich lange mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft über die Lage in dem Land. Bei dem Treffen am Sonntagabend sei es um die politische und gesellschaftliche Lage, die Kurden, die Entwicklung von Justiz und Rechtsstaat sowie die Kooperation in der Flüchtlingspolitik gegangen, hieß es aus Regierungskreisen.

Auch die EU-Beitrittsverhandlungen seien Thema gewesen. An der Unterredung nahmen Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Anwälte und Menschenrechtler teil. Oppositionspolitiker oder prominente Erdogan-Kritikern waren nicht dabei. Das für 60 Minuten angesetzte Gespräch dauerte gut zwei Stunden.

Kritiker werfen Erdogan vor, die Pressefreiheit in der Türkei zu beschneiden und Druck auf die Justiz auszuüben. Menschenrechtsgruppen bemängeln außerdem das harte Vorgehen der Armee im kurdisch geprägten Südosten der Türkei. Sie werfen der Regierung darüber hinaus vor, syrische Flüchtlinge an der Grenze teils gewaltsam abzuweisen.

Pro Asyl warf der Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen vor. „Die Erfahrungen der vergangenen Wochen übertreffen unsere schlimmsten Befürchtungen“, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt der dpa.

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