Für Osman Akyol und seine Frau Bursa war Erdoğans erste Rede nach dem Putschversuch im vergangenen Juli der Wendepunkt. „Damals bestand noch die Chance, das Land zu einen“, sagt Akyol, der mit echtem Namen nicht genannt werden möchte. „Aber der Präsident vertiefte die Gräben und redete stattdessen davon, die Todesstrafe wiedereinzuführen.“ Die beiden Exbanker fassten daraufhin den Entschluss, das Land zu verlassen. Gespart hatten sie in ihren Jahren als Banker in London genug. Mit dem Geld kauften sie Immobilien an der portugiesischen Küste und wollen nun ein Hotel eröffnen. „In meinem Freundeskreis reden viele darüber, auszuwandern“, sagt Akyol.
Er und seine Frau gehören zur Istanbuler Oberschicht. Die macht sich gerade aus dem Staub. Zu groß ist die Angst, dass die Türkei sich in einen autoritär geführten Willkürstaat verwandelt. Am Sonntag lässt Präsident Recep Tayyip Erdoğan über eine Verfassungsreform abstimmen, die ihm eine einmalig mächtige Position einräumen würde.
Während der Großteil der „normalen“ Türken für Erdoğans Ansinnen stimmen dürfte, versetzt diese Aussicht die Welt der Reichen in Aufruhr. 6000 Millionäre haben die Türkei 2016 verlassen. Das belegen die Zahlen des Global Wealth Report. Zum Vergleich: 2010 waren es bloß 1000.
Die Türkei, noch vor wenigen Jahren eines der vielversprechendsten Schwellenländer der Welt, scheint zu einem Hochrisikostaat geworden zu sein. Wer es sich leisten kann, kauft sich Immobilien im europäischen Ausland und bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung gleich mit dazu, legt Teile des Vermögens in Sachwerte in Europa an oder gründet in Süd- und Westeuropa Unternehmen. Und das weckt die Begierde unter Vermögensmanagern, Maklern für gehobene Immobilien und sonstigen Hütern und Umsorgern des großen Geldes.
Vor allem Südeuropa profitiert
Tolga Habali, Direktor von Henley & Partners Türkei in Istanbul, organisiert betuchten Türken den Schritt. Abhängig vom jeweiligen Land, erfordert das eine Mindestinvestition von 100 000 bis zu einer Million Dollar. „Portugal, Spanien und Griechenland sind die Topziele, da sie auch ein Reisen im gesamten Schengenraum ermöglichen“, sagt Habali. „Vielen geht es auch um eine gute Ausbildung für ihre Kinder.“ Während dieser Schritt für die Elite vieler afrikanischer und asiatischer Länder Standard ist, sei es in der Türkei ein neuer Trend.
Zahlen und Fakten zum Referendum in der Türkei
55,3 Millionen Wahlberechtigte sind beim Referendum in der Türkei am 16. April dazu aufgerufen, für oder gegen die Einführung eines Präsidialsystems zu stimmen. Die Wahl findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt - rund 380 000 Sicherheitskräfte sind am Wochenende im Einsatz. Im Ausland - wo zusätzlich 2,9 Millionen wahlberechtigte Türken registriert sind - wurde bereits abgestimmt.
Im Osten der Türkei öffnen die Wahllokale um 7.00 Uhr (Ortszeit/6.00 Uhr MESZ) und schließen um 16.00 Uhr. In anderen Landesteilen kann von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr abgestimmt werden.
Auf der linken Hälfte der Stimmzettel steht „Ja“ auf weißem Hintergrund und auf der anderen „Nein“ auf braunem Hintergrund. Der Wähler entscheidet, indem er einen Stempel mit der Aufschrift „tercih“ („Auswahl“) auf den bevorzugten Teil drückt. Dann steckt er den Stimmzettel in einen Umschlag, der in eine Urne kommt. Eine Frage ist auf dem Stimmzettel nicht vermerkt. Nach dem wochenlangen Wahlkampf dürften die Optionen aber bekannt sein.
Landesweit gibt es gut 167.000 Wahlurnen (Wahllokale haben in der Regel jeweils mehrere Wahlurnen). Vertreter von Regierungs- und Oppositionsparteien dürfen Beobachter an die Urnen entsenden, um die Abstimmung und die Auszählung zu beobachten.
Diese Beobachter müssen das Ergebnis aus der jeweiligen Urne unterzeichnen, bevor die Stimmzettel und das Wahlergebnis zur Wahlkommission des Bezirks gebracht werden. Dort werden die Ergebnisse - wieder unter Beobachtung von Vertretern sowohl der Regierungspartei AKP als auch von Oppositionsparteien - in ein Computersystem eingegeben und zur Wahlkommission nach Ankara übermittelt. In der nationalen Wahlkommission in Ankara sitzen ebenfalls Vertreter der Regierung und der Opposition.
Die versiegelten Wahlurnen werden mit einem eigenen Flugzeug unter Aufsicht nach Ankara gebracht und dort der Wahlkommission übergeben. Am Wahltag werden die Stimmen nach Schließung der Wahllokale ebenfalls unter Beobachtung von Regierungs- und Oppositionsparteien ausgezählt.
Ja, aber nicht viele. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat elf internationale Experten nach Ankara entsandt. Zusätzlich sind seit dem 25. März 24 internationale Langzeitbeobachter der OSZE im Land im Einsatz.
Am Abend des Referendums. Unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale beginnt die Auszählung. Laut Wahlgesetz dürfen Medien bis 21 Uhr keine vorläufigen Ergebnisse veröffentlichen. Die Wahlbehörde kann am Wahltag selbst aber eine frühere Veröffentlichung erlauben. Ein Verstoß wird allerdings nicht geahndet, das heißt, Medien könnten das Veröffentlichungsverbot auch ignorieren.
Prognosen oder Hochrechnungen gibt es nicht, dafür aber Teilergebnisse, die fortlaufend aktualisiert werden. Wann der Ausgang des Referendums feststeht, hängt vor allem davon ab, wie knapp das Resultat ausfällt. Vermutlich dürfte aber am späteren Abend oder spätestens in der Nacht deutlich werden, welche Seite den Sieg für sich verbuchen kann.
Ja. In den Gefängnissen werden nach den Plänen der Wahlkommission insgesamt 461 Wahlurnen stehen. Allerdings sind wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilte Gefangene von der Wahl ausgeschlossen. Die zahlreichen Regierungskritiker in Untersuchungshaft können aber ihre Stimmen abgeben. Gewährleistet ist ebenfalls, dass der inhaftierte „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel wählen kann: In Silivri, wo der deutsch-türkische Journalist in Untersuchungshaft sitzt, werden 33 Wahlurnen aufgestellt.
Zu besichtigen ist das zum Beispiel am Anfang dieser Woche in Lissabon. Dort schwärmt João Pestana Dias in einem Konferenzraum eines Luxushotels von seiner Heimat: „In Portugal gibt es keine ethnischen Probleme, keinen religiösen Fanatismus, keine gesellschaftlichen Konflikte“, sagt der Geschäftsmann, der die Interessengemeinschaft The Trade Connection Portuguese Turkish Network anführt. Den unausgesprochenen Zusatz „im Gegensatz zur Türkei“ verkneift sich Pestana Dias. Denn als er Investitionsprojekte türkischer Geldgeber in Höhe von fast 300 Millionen Euro in Portugal präsentiert, ist auch der türkische Botschafter unter den Zuhörern. „Sozialer Frieden ist die Anlagenrendite, nach der sie suchen“, sagt Pestana Dias deshalb, und jedem im Raum ist klar, was er meint.
Allein im Januar und Februar dieses Jahres haben 13 Türken in Portugal sogenannte goldene Visa für Hochvermögende beantragt. Das waren fast so viele wie im gesamten vorigen Jahr. Damit können sie einen Teil ihres Vermögens in Sicherheit bringen und sich mit Investitionsvorhaben im Land gleichzeitig eine Aufenthaltserlaubnis erkaufen, Bewegungsfreiheit im Schengenraum inklusive.
Auch in Deutschland ist die Flucht der Millionäre zu spüren
So hat gerade eine türkische Investorengruppe eine renovierungsbedürftige Immobilie im pittoresken, aber etwas heruntergekommenen Osten der Stadt gekauft, um sie in ein Luxushotel zu verwandeln. Gesamtvolumen der zugesagten Gelder: zwischen 15 und 20 Millionen Euro. Jedes der 20 luxuriösen Zimmer soll mit Kunstwerken im Wert von 60.000 bis 100.000 Euro ausgestattet werden. Weitere 80 bis 100 Millionen Euro türkisches Kapital fließen laut Pestana Dias in ein neues Hafenterminal der Industriestadt Barreiro. Nicht zu vergessen die 65 Millionen Euro, die 45 Privatinvestoren für den Kauf von Wohnimmobilien im Großraum Lissabon aufbringen.
Auch in Frankreich, an der Côte d’Azur, gehören gut situierte Türken neuerdings zu den Immobilienkäufern. Und in der spanischen Hauptstadt Madrid hat die türkische Dogus-Holding 180 Millionen für den Kauf des Nobelhotels Villa Magna ausgegeben. Der Schwerpunkt türkischer Geldflüchtlinge liegt auf Südeuropa. Allerdings profitieren auch klassische Anlaufstellen für krisengeplagte Vermögende aus aller Welt.
Julian Walker, Direktor bei der auf die Türkei spezialisierten Spot Blue International Property in London, sagt, er sehe vermehrtes Interesse türkischer Staatsbürger an britischen Immobilien. In den vergangenen 6 bis 18 Monaten gebe es deutlich mehr Anfragen als früher, zweistellig seien sie gestiegen. „London mögen die Türken, es gilt als sicherer Hafen“, sagt Walker.
Gesucht würden vor allem Immobilien im Wert von 0,5 Millionen bis 2,5 Millionen Pfund. Zwar hat die türkische Lira stark abgewertet, doch Walker sagt: „Viele Türken halten harte Währungen.“ Und für die Reichen, die über Dollar oder Euro verfügen, ist Großbritannien seit dem Brexit attraktiv, weil das Pfund so stark gefallen ist.
Auch James Beckham von der Immobilienberatung Cushman & Wakefield beobachtete, türkische Käufer hätten sich in den letzten zwei Jahren vermehrt für Londoner Objekte interessiert. So kaufte ein türkischer Investor im vergangenen September für 33 Millionen Pfund das Bürogebäude St. Paul’s House in der Nähe der gleichnamigen Kathedrale. „Von unseren Maklern kommen zwar anekdotische Hinweise, dass türkische Interessenten nun in Londoner Wohnimmobilien einsteigen wollen, aber Zahlen dazu haben wir nicht“, sagt Lucian Cook, Director of Residential Research bei der exklusiven Maklerfirma Savills. Dort wurden 2016 kommerzielle Objekte im Wert von 65,75 Millionen Pfund an einen türkischen Investor verkauft und 2015 sieben Immobilien für insgesamt 168,15 Millionen Pfund.
Auch in Deutschland ist die Flucht der Millionäre zu spüren. „Zu den bevorzugten Zielen der türkischen Millionäre zählt Deutschland, vor allem Berlin und Frankfurt“, sagt Thomas Zabel, Geschäftsführer der Zabel Property, das zum Immobilienunternehmen Jones Lang LaSalle gehört. So sind laut Zabel bereits etliche Wohnungen in Deutschlands größtem Wohnhaus, dem Grand Tower in Frankfurt, an gut betuchte Türken verkauft. „Es melden sich verstärkt türkische Unternehmer, denen es um den Vermögensschutz geht“, sagt auch der Vertriebsdirektor eines Schweizer Versicherers.
Folgt der Exodus von Investoren?
Während viele Reiche fliehen, ist die Lage bei Unternehmern und geschäftlichen Investoren noch diffus. Fadi Hakura, Assistant Fellow of Europe beim Thinktank Chatham House, meint, künftig werde Präsident Erdoğan mehr Macht über die Notenbank ausüben und auch die Finanzaufsicht an die kurze Leine nehmen. Das alles verunsichere auch Unternehmen. Türkische Firmen investierten schon seit ein paar Jahren im Ausland – etwa in Pakistan, Deutschland, der Schweiz – und kauften sich auch in britische und andere europäische Firmen ein. Das deutet natürlich zum einen auf Wachstum hin, zum anderen aber auch auf neue Standbeine neben der instabilen Türkei. So hat das türkische Unternehmen Ülker nicht nur den belgischen Schokoladenhersteller Godiva, sondern auch die britische Firma United Biscuits übernommen. Die türkische Koc-Gruppe erwägt, sich an der Londoner Börse listen zu lassen.
Auch in der Stuttgarter Dependance der Kanzlei Heussen-Law häufen sich die Anfragen. Dort berät Kaan Kalkan Unternehmer, die nach Standortalternativen suchen. „Seit mehr als einem Jahr wollen immer mehr von ihnen nach Deutschland kommen“, sagt er. „Das sind Menschen, die nicht alle Brücken zur Türkei abbrechen wollen, aber auch nicht tatenlos abwarten wollen.“ Stattdessen sondieren sie, ob und wie sie in Deutschland ein zusätzliches Geschäftsfeld aufbauen können.
Zwar sinken seit Monaten die Verbindlichkeiten türkischer Einrichtungen und Unternehmen bei ausländischen Kreditgebern, ein Indikator für abfließendes Kapital. Aber: „Ich würde nicht von einer Kapitalflucht sprechen – eher von einem schon länger feststellbaren konstanten Fluss“, sagt Hakura. Und Roger Kelly, Volkswirt bei der Osteuropabank, berichtet, türkische Investoren seien verängstigt. Doch um Kapitalflucht im großen Stil handle es sich noch nicht.
Das mag auch daran liegen, dass dies für Türken schwieriger geworden ist. Denn auch die Türkei nimmt am automatischen Informationsaustausch gemäß den Vorgaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) teil. Damit wird der türkische Staat künftig von rund 100 anderen Ländern Angaben zu Auslandskonten seiner Staatsangehörigen erhalten. Auswanderer und Exbanker Akyol hat das nicht abgeschreckt. Er hat sein Urteil gefällt: „Wir hoffen das Beste, aber erwarten das Schlimmste.“