In Syrien feiern die Milizen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG beachtliche Erfolge im Kampf gegen die IS-Terrormiliz: Nachdem sie den Dschihadisten bereits im Februar 2015 nach monatelanger Belagerung die Stadt Kobane entrissen, gelang es den Kurdenmilizen jetzt in erbitterten Häuserkämpfen, den IS auch aus der Stadt Manbidsch zu vertreiben.
In der türkischen Hauptstadt Ankara will aber keine Freude aufkommen. Denn mit der Befreiung von Manbidsch kommen die syrischen Kurden ihrem Ziel einer Autonomieregion im Norden Syriens einen großen Schritt näher. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan will die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden mit allen Mitteln durchkreuzen. Er sieht darin die Keimzelle eines Kurdenstaats, der sich eines Tages vom Norden Syriens über die Südosttürkei bis in den Irak und den Iran erstrecken könnte.
Montag, 15. August. Tatort: Die Fernstraße D370. Sie verbindet die türkische Kurdenmetropole Diyarbakir mit dem 110 Kilometer östlich gelegenen Batman. Vor einer Polizeistation in der Nähe des Dorfes Sükürlü stoppt gegen 13.10 Uhr ein mit Sprengstoff beladener Lieferwagen – und fliegt in die Luft. Die Explosion reißt einen fünf Meter tiefen Krater in die Straße. Das dreistöckige Gebäude der Polizeistation wird völlig zerstört, zwei benachbarte Tankstellen tragen schwere Schäden davon. Fünf Polizisten und zwei Zivilisten kommen ums Leben, unter ihnen ein Kleinkind.
Solche Anschläge sind in der türkischen Kurdenregion fast an der Tagesordnung, seit der Friedensprozess im Sommer 2015 zusammenbrach. Aber das Datum des Attentats bei Sükürlü war kein Tag wie jeder andere. Am 15. August jährte sich zum 32. Mal der Beginn des bewaffneten Kampfes der kurdischen Arbeiterpartei PKK für einen eigenen Kurdenstaat. Im Kurdenkrieg sind seit 1984 bereits mehr als 45.000 Menschen ums Leben gekommen. Aber selten wurde so unerbittlich gekämpft wie seit dem Herbst 2015.
Bei Anschlägen der PKK starben in den vergangenen Monaten in der Kurdenregion Hunderte Soldaten und Polizisten. Mit massiven Boden- und Luftoffensiven der Streitkräfte versucht Erdogan, die Kämpfer der PKK zu „neutralisieren“. Die Zerstörungen in Kurdenstädten wie Cizre, Silopi, Nusaybin und auch in Teilen der Altstadt von Diyarbakir erinnern an Bilder aus dem syrischen Bürgerkrieg. Zehntausende sind obdachlos, Hunderttausende auf der Flucht. Auf beiden Seiten wächst der Hass.
Erdogan suchte eine friedliche Lösung
Dabei war es Erdogan, der Ende der 2000er Jahre als Regierungschef einen Anlauf zur friedlichen Lösung des Konflikts genommen hatte. Es schien keine Tabus zu geben: Die Regierung führte sogar Geheimverhandlungen mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Er galt damals zwar als Staatsfeind Nummer 1, wird aber von Millionen Kurden als Nationalheld verehrt und ist deshalb eine Schlüsselfigur für eine Beilegung des Konflikts. Im Frühjahr 2013 rief Öcalan die PKK zu einem Waffenstillstand auf, der erstmals auch von Regierungsseite eingehalten wurde.
Der Friedensprozess stieß aber schnell an seine Grenzen – vor allem, weil die Regierung nie ein klares Konzept für die Lösung der Kurdenfrage vorlegte. Die kurdischen Sprachverbote wurden zwar nach und nach gelockert. Über eine Einführung der kurdischen Sprache an den staatlichen Schulen ließ die Regierung aber ebenso wenig mit sich reden wie über Formen einer regionalen Selbstverwaltung.
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
Kritiker sagen, Erdogan sei es nicht wirklich um mehr Selbstbestimmung und kulturelle sowie politische Rechte für die Kurden gegangen, sondern um die Stimmen kurdischer Wähler für seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP und die Unterstützung der Minderheit für die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm eine noch größere Machtfülle sichern soll. Doch dieses Kalkül zerschlug sich mit dem Einzug der Kurdenpartei HDP ins türkische Parlament im Sommer 2015. Dadurch verlor Erdogans AKP ihre absolute Mehrheit.
Kurdenpolitiker werfen Erdogan vor, dass er seither den Konflikt schürt, um ihn politisch für sich zu instrumentalisieren: Nachdem er die Stimmen der Kurden nicht gewinnen konnte, suche er nun neue Anhänger im Lager der türkischen Ultra-Nationalisten.
Inzwischen tobt der Kurdenkrieg mit noch größerer Schärfe als auf seinem bisherigen Höhepunkt in den 1990er-Jahren. Die Streitkräfte fliegen Luftangriffe auf Stellungen der PKK, die ihrerseits Polizeistationen angreift, Sprengfallen legt und Selbstmordattentäter losschickt, um in türkischen Städten Massaker anzurichten. Mit einem Anschlag mitten im Regierungsviertel von Ankara, bei dem 28 Menschen starben, demonstrierten die kurdischen Terroristen im Februar ihre Stärke und ihre brutale Entschlossenheit.
Hatte die PKK die Forderung nach einem eigenen Kurdenstaat in den 2000er-Jahren fallengelassen und stattdessen auf mehr politische und kulturelle Rechte für die 15 Millionen Kurden innerhalb der Türkei hingearbeitet, bekommt mit der Eskalation des Konflikts die Vision der staatlichen Unabhängigkeit jetzt wieder mehr Anhänger.
„Steht ihr auf unserer Seite?“
Dazu trägt auch die Entwicklung im Norden Syriens bei. Hier kontrollieren die Kurdenmilizen der YPG nach der Befreiung von Kobane bereits die Grenzregion zur Türkei östlich des Euphrat. Die YPG ist der militärische Arm der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), des syrischen Ablegers der PKK.
Mit der Rückeroberung von Manbidsch hat die PYD ihren Einflussbereich jetzt auch in jene Region westlich des Euphrat ausgedehnt, die bisher teilweise vom IS kontrolliert wurde. Das freut die USA, die in den Kurdenmilizen einen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den IS sehen und entsprechend unterstützen – nicht nur mit Luftangriffen, sondern auch mit Waffen und Militärberatern am Boden. Das missfiel Erdogan immer schon. Im Februar fragte er die USA öffentlich: „Steht ihr auf unserer Seite oder auf der Seite der terroristischen PYD und PKK?“
Jetzt ist für Ankara mit der Präsenz der Kurdenmilizen westlich des Euphrat eine rote Linie überschritten. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Türkei die syrischen Kurdenmilizen gewarnt, den Fluss nicht nach Westen zu überschreiten – und mit Artilleriefeuer geantwortet, als sie es dennoch taten. Zeitweilig erwog man in Ankara sogar eine Invasion Nordsyriens, um die Kurden aus dem Grenzgebiet zu vertreiben. Diese Pläne wurden dann wieder fallengelassen, aus Angst, die Türkei werde in Kämpfe mit dem IS verwickelt, militärisch mit Russland konfrontiert und damit noch tiefer in den Treibsand des Syrienkonflikts hineingezogen.
Nun setzt man auf Appelle: Die PYD müsse sich nun, nach der Rückeroberung von Manbidsch, schleunigst auf die Ostseite des Euphrat zurückziehen, mahnte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag. So war es tatsächlich schon im Mai mit Washington vereinbart. „Die USA müssen ihr Versprechen halten, das erwarten wir“, sagte Cavusoglu.
Manbidsch ist historisch eine arabische Stadt. Dabei soll es auch bleiben, heißt es in Washington. Dass die Kurden die Region aber wieder preisgeben werden, ist unwahrscheinlich. Die PYD möchte ihren Einflussbereich auch westlich des Euphrat ausdehnen und ihrer geplanten Autonomiezone anschließen. In den von ihr kontrollierten Landstrichen östlich des Euphrat praktiziert die PYD bereits eine Selbstverwaltung – mit Religionsfreiheit, Frauenrechten und ohne Todesstrafe.
Das mag dem Westen gefallen, nicht aber Erdogan. Für ihn ist diese Entwicklung ein Alptraum. Mit der kurdischen Autonomiebehörde im Nordirak hat sich die Türkei zwar nach anfänglichem Widerstand schon vor vielen Jahren arrangiert – aus wirtschaftlichen Interessen, aber auch, weil die irakischen Kurden stets auf Distanz zur PKK blieben. Das macht sie aus Erdogans Sicht zu „guten Kurden“.
Mit den Autonomiebestrebungen des PKK-Ablegers PYD im Norden Syriens werden die Karten aber völlig neu gemischt. Die militärischen Erfolge der YPG im Kampf gegen den IS und ihre informelle Allianz mit den USA geben auch der PKK neuen Rückenwind. Brisanter noch aus türkischer Sicht ist die Aussicht, dass die kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens und des Nordiraks über kurz oder lang zusammenwachsen zu einem großen Staat, der das traditionelle Siedlungsgebiet der Kurden umfasst – das heute größtenteils zur Türkei gehört.