Türkei Erdogans verrückte Pläne

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Bruttoinlandsprodukt der Türkei Quelle: FM Consulting, Bahcesehir-Universität

Aber dieses System soll sich ja sowieso dramatisch ändern, wenn es nach Erdogan geht. Gleich nach der Wahl wollen seine Parteigänger die türkische Verfassung gründlich ändern. Die geltende Konstitution stammt aus der Zeit der Militärdiktatur vor fast 30 Jahren. Im vorigen Jahr erst hat Erdogan durch Volksabstimmung das bisherige Vetorecht der Armeeführung gegen alle möglichen Entscheidungen der zivilen Staatsgewalt abgeschafft. Trotzdem schränkt die Verfassung Bürger- und Menschenrechte weiterhin extrem ein. Die AKP verspricht jetzt eine wirkliche Demokratisierung des Landes.

Erdogans Gegner fürchten das genaue Gegenteil: schon wegen des Plans einer auf den heutigen Ministerpräsidenten und zukünftigen Staatschef maßgeschneiderten Präsidialverfassung. Die Opposition sagt, Erdogans wahres Vorbild sei das russische Herrschaftssystem. Von Erdogan als „türkischem Putin“ ist die Rede – eine kaum aufhaltbare Entwicklung, falls die AKP an diesem Sonntag 330 der 550 Sitze oder mehr erobert (2007 waren es 341). Solche großen Mehrheiten sind nur möglich, weil eine Zehnprozenthürde kleine Parteien am Einzug ins Parlament hindert. Mit 60 Prozent der Abgeordneten auf ihrer Seite kann die Regierung jede Verfassungsänderung nach ihren Vorstellungen zur Volksabstimmung stellen.

Handlanger der Regierung

Der türkische Putin ist für die weltlich orientierte Opposition natürlich ein Gräuel. Viele säkulare Türken sind auch oder gerade nach neun Jahren AKP-Regierung überzeugt, Erdogan arbeite an einer geheimen Agenda: einer allmählichen islamistischen Unterwanderung. Schlüsselstellungen in Verwaltung, Bildungswesen und Justiz habe er mit strenggläubigen Gefolgsleuten besetzt, heißt es. „Die AKP entscheidet bei Beförderungen nicht nach Qualifikation, sondern nach Frömmigkeit“, sagt der Analyst Yesilada. Der Journalist Ahmet Sik glaubte sogar nachweisen zu können, dass eine islamische Bruderschaft, die der Regierung nahesteht, den Polizeiapparat zu unterwandern beginne.

Siks unveröffentlichtes Buchmanuskript „Die Armee des Imams“ wurde beschlagnahmt, Sik sitzt in Untersuchungshaft – wegen angeblicher Umsturzpläne gegen die Regierung. Was eigentlich die Plausibilität seiner schweren Vorwürfe eher erhöht. Und schlimmerweise ist Sik kein Einzelfall: Nach Angaben des International Press Institute sitzen in der Türkei 68 Journalisten in Haft, womit sie weltweit das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten wäre, noch vor China und dem Iran. Die Justiz werde „immer mehr zum Handlanger der Regierung“, sagt die ehemalige hochrangige Richterin Emine Ülker Tarhan. Sie hat vor drei Monaten ihr Amt niedergelegt und kandidiert bei der Wahl für die oppositionelle CHP. Die Türkei sei unter Erdogan zu einem „Imperium der Angst“ geworden, sagt sie.

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