Türkei Erdogans verrückte Pläne

Nach dem Wahlsieg am Sonntag drohen Ministerpräsident Recep Erdogan in seiner dritten und letzten Amtszeit große wirtschaftliche Probleme. Er selbst will das Land verändern und spricht von "verrückten Plänen".

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Wahlplakate in Instanbul Quelle: REUTERS

Der Ministerpräsident legt sich noch einmal ins Zeug. Recep Tayyip Erdogan kämpft seinen letzten Wahlkampf als Regierungschef. Es geht um eine dritte Amtszeit, eine vierte verbietet die Verfassung. Schon darum will Erdogan die absolute Parlamentsmehrheit seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) noch weiter ausbauen: Je deutlicher diese Mehrheit, desto leichter wäre eine Verfassungsänderung, mit einem politisch den Ton angebenden Staatspräsidenten nach französischem Vorbild und noch vielen Amtsjahren. Und das wäre dann natürlich ein Job für den „großen Meister“: So nennen Erdogans Anhänger ihr Idol.

Die Partei steht „vor einem sicheren Sieg“, sagt der Istanbuler Politik- und Wirtschaftsanalyst Atilla Yesilada. Das liegt ganz einfach am wirtschaftlichen Erfolg des Landes: Seit Erdogan 2002 in Ankara regiert, hat die Türkei einen beispiellosen Boom erlebt. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seitdem fast verdreifacht. Vergangenes Jahr legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 8,9 Prozent zu – nach China und Indien der drittbeste Wert unter den G20-Nationen. Die Staatsverschuldung sank unter Erdogans Ägide von fast 80 auf 42 Prozent des BIPs, das Haushaltsdefizit dürfte dieses Jahr etwa zwei Prozent vom BIP ausmachen – für viele EU-Staaten wären das Traumzahlen.

Keine Europa-Euphorie

Dabei spielt die EU, früher eines von Erdogans Lieblingsthemen, in diesem Wahlkampf kaum eine Rolle. Die Beitrittsverhandlungen sind festgefahren, die einstige Europa-Euphorie der Türken geschwunden. Laut Umfragen sind nur noch 38 Prozent für einen Beitritt, halb so viele wie vor sieben Jahren. Nur 26 Prozent glauben, dass es je zum EU-Beitritt ihres Landes kommt.

Unternehmer und Manager kümmert das Thema weniger als früher. Mit der seit 1996 bestehenden Zollunion hat die Türkei praktisch freien Zugang zum europäischen Markt. Und heute gewinnen der Nahe Osten und Zentralasien immer mehr Bedeutung für die türkische Wirtschaft. Man gibt sich daher selbstbewusst: Nicht die Türkei brauche Europa, sondern Europa brauche die Türkei, heißt es am Bosporus. „Ob wir nun irgendwann EU-Mitglied werden oder nicht, ist für die Zukunft unseres Landes nicht entscheidend“, sagt Zafer Kurtul, Vorstandsvorsitzender der Sabanci Holding, der zweitgrößten Unternehmensgruppe des Landes.

Sabanci und viele andere türkischen Unternehmen blicken nicht mehr nur nach Westen. In den arabischen Ländern machten die Türken schon vor den Umbrüchen dieses Jahres exzellente Geschäfte. In Libyen zum Beispiel wickelten türkische Bau- und Ingenieurfirmen vor Beginn der blutigen Kämpfe Projekte im Volumen von 15 Milliarden Dollar ab. Diese Verbindungen sind jetzt gefährdet – andererseits könnten die Türken von den Umwälzungen auch gewaltig profitieren. Denn viele Araber sehen in der türkischen Republik ein leuchtendes Beispiel für die Kombination von Islam und moderner Demokratie – trotz aller Mängel des politischen Systems vom Kurdenkonflikt über die stark eingeschränkte Meinungsfreiheit bis zu dem enormen Einkommensgefälle.

Bruttoinlandsprodukt der Türkei Quelle: FM Consulting, Bahcesehir-Universität

Aber dieses System soll sich ja sowieso dramatisch ändern, wenn es nach Erdogan geht. Gleich nach der Wahl wollen seine Parteigänger die türkische Verfassung gründlich ändern. Die geltende Konstitution stammt aus der Zeit der Militärdiktatur vor fast 30 Jahren. Im vorigen Jahr erst hat Erdogan durch Volksabstimmung das bisherige Vetorecht der Armeeführung gegen alle möglichen Entscheidungen der zivilen Staatsgewalt abgeschafft. Trotzdem schränkt die Verfassung Bürger- und Menschenrechte weiterhin extrem ein. Die AKP verspricht jetzt eine wirkliche Demokratisierung des Landes.

Erdogans Gegner fürchten das genaue Gegenteil: schon wegen des Plans einer auf den heutigen Ministerpräsidenten und zukünftigen Staatschef maßgeschneiderten Präsidialverfassung. Die Opposition sagt, Erdogans wahres Vorbild sei das russische Herrschaftssystem. Von Erdogan als „türkischem Putin“ ist die Rede – eine kaum aufhaltbare Entwicklung, falls die AKP an diesem Sonntag 330 der 550 Sitze oder mehr erobert (2007 waren es 341). Solche großen Mehrheiten sind nur möglich, weil eine Zehnprozenthürde kleine Parteien am Einzug ins Parlament hindert. Mit 60 Prozent der Abgeordneten auf ihrer Seite kann die Regierung jede Verfassungsänderung nach ihren Vorstellungen zur Volksabstimmung stellen.

Handlanger der Regierung

Der türkische Putin ist für die weltlich orientierte Opposition natürlich ein Gräuel. Viele säkulare Türken sind auch oder gerade nach neun Jahren AKP-Regierung überzeugt, Erdogan arbeite an einer geheimen Agenda: einer allmählichen islamistischen Unterwanderung. Schlüsselstellungen in Verwaltung, Bildungswesen und Justiz habe er mit strenggläubigen Gefolgsleuten besetzt, heißt es. „Die AKP entscheidet bei Beförderungen nicht nach Qualifikation, sondern nach Frömmigkeit“, sagt der Analyst Yesilada. Der Journalist Ahmet Sik glaubte sogar nachweisen zu können, dass eine islamische Bruderschaft, die der Regierung nahesteht, den Polizeiapparat zu unterwandern beginne.

Siks unveröffentlichtes Buchmanuskript „Die Armee des Imams“ wurde beschlagnahmt, Sik sitzt in Untersuchungshaft – wegen angeblicher Umsturzpläne gegen die Regierung. Was eigentlich die Plausibilität seiner schweren Vorwürfe eher erhöht. Und schlimmerweise ist Sik kein Einzelfall: Nach Angaben des International Press Institute sitzen in der Türkei 68 Journalisten in Haft, womit sie weltweit das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten wäre, noch vor China und dem Iran. Die Justiz werde „immer mehr zum Handlanger der Regierung“, sagt die ehemalige hochrangige Richterin Emine Ülker Tarhan. Sie hat vor drei Monaten ihr Amt niedergelegt und kandidiert bei der Wahl für die oppositionelle CHP. Die Türkei sei unter Erdogan zu einem „Imperium der Angst“ geworden, sagt sie.

Recep Tayyip Erdogan Quelle: dapd

Ähnliche und noch schlimmere Vorwürfe waren in den langen Jahren der Vorherrschaft des Militärs gegen die damals tonangebenden Generäle und die ihnen ergebenen Richter und Spitzenbeamten des Landes zu hören. Jetzt scheint die Macht dieser weltlichen Elite gebrochen, die frommen AKP-Leute haben das Sagen. Dutzende aktive und ehemalige Offiziere sitzen wegen angeblicher Umsturzpläne in Untersuchungshaft. Jetzt ermittelt die Justiz sogar gegen die überlebenden Initiatoren des Generalsputsches von 1980.

Neue Städte

Erdogan selbst spricht von „verrückten Plänen“, wenn er den Wählern seine Visionen ausbreitet: Vor allem soll ein künstlicher „zweiter Bosporus“ entstehen, ein 45 Kilometer langer Kanal zur Entlastung der Wasserstraße zwischen Europa und Asien. Außerdem will der Premier bei Istanbul zwei Trabantenstädte für mehrere Millionen Einwohner aus dem Boden stampfen. Immer wieder fasst er in seinen Reden das Jahr 2023 ins Auge: Dann jährt sich zum 100. Mal die Gründung der türkischen Republik durch Kemal Atatürk, und der dann 69-Jährige würde vielleicht seine zweite Amtsperiode als Staatspräsident abschließen. Bis dahin will Erdogan die jährliche Wirtschaftsleistung der Türkei von 742 auf 2000 Milliarden Dollar steigern und das Pro-Kopf-Einkommen von 11 300 auf 25 000 Dollar.

Analysten sähen es allerdings lieber, wenn sich der Premier mehr auf die Gegenwart als auf Zukunftsvisionen konzentrieren würde. Denn hier und heute zeigt die Wirtschaft alle Anzeichen einer Überhitzung. Anlass zur Sorge gibt vor allem das Leistungsbilanzdefizit, das 2011 rund acht Prozent des BIPs erreichen dürfte. Noch finanziert die Türkei einen Großteil ihrer boomenden Importe und des Kreditwachstums mit dem Zufluss heißen Geldes. „Aber wenn die Zinsen im Euro- und Dollar-Raum steigen, wird das Spekulationskapital ganz rasch abfließen“, warnt der Analyst Yesilada. Dann könnte schnell die Blase platzen. Krisenzeichen gibt es jetzt schon: Die Ökonomen der Istanbuler Bahcesehir-Universität verzeichnen in den ersten Monaten dieses Jahres eine überraschend niedrige Importquote, die sie auf sinkende Investitionstätigkeit zurückführen. Trotzdem ist das Handelsdefizit deutlich gewachsen, weil die Exporte in arabische Länder eingebrochen sind. Auch in Europa ist die Nachfrage nach türkischen Waren gesunken.

Für die türkischen Unternehmer ist so etwas wichtiger als das magische Jahr 2023. Sie sind mit Erdogan zwar so gut gefahren, dass sie auf seine Wiederwahl setzen. Nur zu triumphal soll der Sieg nicht ausfallen, damit der „große Meister“ auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt.

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