Trotz des knappen vorläufigen Ergebnisses beim Referendum in der Türkei hat Staatschef Recep Tayyip Erdogan von einem „Sieg“ des „Ja“-Lagers gesprochen. Erdogan gratulierte Ministerpräsident Binali Yildirim zu dem bei der Volksabstimmung erzielten „Sieg“, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Kurz darauf hat auch Yildirim das „Ja“-Lager zum Sieger erklärt. „Das letzte Wort hat das Volk gesprochen. Es hat „Ja“ gesagt und einen Punkt gesetzt“, sagte Yildirim am Sonntagabend in Ankara.
Die Opposition machte angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens keine Anzeichen, eine Niederlage einzuräumen. Der CHP-Abgeordnete Baris Yarkadas sagte der Nachrichtenagentur dpa: „Das Ergebnis ist noch nicht klar.“ Der Abgeordnete Sezgin Tanrikulu von größten Oppositionspartei CHP sagte der Deutschen Presse-Agentur, das „Nein“-Lager könne das Referendum noch gewinnen. Es habe zudem Unregelmäßigkeiten bei der Volksabstimmung gegeben. Deshalb werde die CHP nach Verkündung der offiziellen Ergebnisse Beschwerde einlegen. Türkische Medien meldeten, Erdogan werde eine Erklärung abgeben.
Beim Referendum über die Einführung des von Erdogan angestrebten Präsidialsystems lagen die „Ja“-Stimmen nach Angaben von Anadolu nach Auszählung von 98,4 Prozent der Stimmen bei 51,32 Prozent. Die „Nein“-Stimmen kamen demnach auf 48,68 Prozent. Oppositionsvertreter in der Wahlkommission bestätigten diese inoffiziellen Zahlen von Anadolu aber zunächst nicht. Mit der fortschreitenden Auszählung hatte der Anteil der „Ja“-Stimmen am Sonntagabend stetig abgenommen.
Die Zustimmung beim Referendum fiel auch aus Sicht der Regierung geringer aus als erwartet. „Wir sehen, dass wir in manchen Provinzen nicht die erwartete Anzahl an „Ja“-Stimmen bekommen haben“, sagte Vize-Ministerpräsident Veysi Kaynak am Sonntagabend vor Journalisten in Ankara. „Daran werden wir arbeiten.“ Er fügte hinzu: „Der Anteil der „Nein“-Stimmen hat Bedeutung für uns.“ Kaynak betonte aber, eine Mehrheit der Stimmen reiche für die Einführung des Präsidialsystems. „In allen Demokratien ist der ausreichende Anteil 50,1 Prozent.“
Nach Angaben aus der Wahlkommission lag die Wahlbeteiligung im Inland auf Basis von rund 80 Prozent der Stimmen bei 86,92 Prozent. In der größten türkischen Stadt Istanbul liegen die Gegner der Verfassungsänderung knapp vorn. Nach Auszählung von 88 Prozent der Stimmen hätten dort etwas mehr als 50 Prozent der Wähler mit "Nein" gestimmt, meldet Anadolu. Auch in der Hauptstadt Ankara habe etwas mehr als die Hälfte der Wahlteilnehmer die Verfassungsänderung abgelehnt, berichtet der Fernsehsender CNN Turk.
Deutsch-Türken stimmten für Erdogan
Die Türken in Deutschland haben laut Anadolu nach vorläufigen Teilergebnissen mit großer Mehrheit für das Präsidialsystem gestimmt. Die staatliche Nachrichtenagentur meldete am Sonntagabend, nach Auszählung von deutlich mehr als der Hälfte der in Deutschland abgegebenen Stimmen komme das Erdogan-Lager auf 63,2 Prozent. Die Gegner des Präsidialsystems konnten demnach 36,8 Prozent verbuchen. Die Wahlbeteiligung in Deutschland lag bei knapp 50 Prozent.
Türkei: Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, stimmte das Volk am 16. April in einem Referendum ab. Im Ausland lebende Türken konnten ihre Stimmen vom 27. März bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten geplanten Änderungen.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitsprachrecht.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen.
Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
In Österreich fiel das vorläufige Ergebnis - allerdings unter Berücksichtigung von zunächst nur etwa einem Fünftel der Stimmen - noch deutlicher aus: Dort kam das Erdogan-Lager auf 72,3 Prozent. In der Schweiz waren demnach zunächst noch weniger Stimmen ausgezählt, dort kamen die Befürworter eines Präsidialsystems auf dieser Basis nur auf 41,1 Prozent. Die Wahlkommission hat noch keine amtlichen Ergebnisse aus dem Ausland veröffentlicht.
Die Anadolu-Angaben sind nicht offiziell und können sich mit Fortgang der Auszählung ändern.
Erdogan-Berater Mustafa Akis sagte am Sonntagabend vor Journalisten in Ankara, er rechne mit einem Sieg beim Referendum. Nach den bisherigen Ergebnissen habe die Bevölkerung der Verfassungsänderung zugestimmt. „Das Ergebnis ist in allen Aspekten legitim und demokratisch.“ Akis sagte, der Wahlkampf sei aus seiner Sicht fair verlaufen. „Diejenigen, die für ein „Ja“ oder für ein „Nein“ warben, hatten die Möglichkeit, sich durch Medien auszudrücken und mit der Öffentlichkeit zusammenzutreffen“, sagte er. „Ich glaube, sie hatten gleiche Chancen. Ich habe keine Ungleichheiten gesehen.“
Die Oppositionspartei CHP kritisierte die Entscheidung der Obersten Wahlbehörde, auch Stimmzettel zu zählen, die kein offizielles Siegel tragen. Mit diesem Schritt habe die Behörde die Abstimmungsregeln geändert, sagte CHP-Vize Bülent Tezcan. Damit stehe die Legitimität des ganzen Referendums infrage.
Wahlzettel ohne Siegel
Die Wahlkommission hatte mit ihrer Entscheidung auf Klagen von Wählern reagiert, die berichtet hatten, ihre Stimmzettel hätten kein Siegel. Bei früheren Wahlen wurden solche Wahlzettel nicht gewertet. Jetzt sollen sie dagegen gelten, sofern nicht nachgewiesen wird, dass sie mit der Absicht abgegeben wurden, das Abstimmungsergebnis zu fälschen.
Besonders aus den Kurdengebieten im Südosten wurden Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung gemeldet. Der Europarats-Wahlbeobachter und Linken-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko beklagte Behinderungen durch die Polizei. Der Abgeordnete Ziya Pir von der pro-kurdischen HDP kritisierte, in der Kurden-Provinz Diyarbakir habe die Polizei Wahlbeobachter der Opposition behindert. „Das richtete sich gezielt gegen das „Nein“-Lager.“
In einem Zwischenbericht des türkischen Menschenrechtsvereins IHD hieß es am Sonntag, in fünf Provinzen sei Wahlbeobachtern des Vereins der Zutritt zu Wahllokalen verweigert worden, darunter in Istanbul. Zudem seien in den ost- und südosttürkischen Provinzen Agri, Erzurum und Adiyaman Wähler dazu gezwungen worden, offen abzustimmen.
"Nein"-Wähler mussten mit "Ja"-Stempel abstimmen
Auch andernorts sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen. So gab es etwa in mehreren Wahllokalen Verwirrung um vorschriftswidrige „Ja“-Stempel. Wähler, die gegen das Präsidialsystem stimmen wollten, mussten dort mit dem „Ja“-Stempel für „Nein“ stimmen. Von der Wahlkommission vorgeschrieben waren Stempel mit der Aufschrift „Auswahl“ (tercih), mit denen die Wähler entweder das Ja- oder das Nein-Feld auf dem Stimmzettel abstempeln sollten.
Wähler hätten, „wenn auch nur teilweise“, mit diesen „Ja“-Stempeln abgestimmt, sagte der Chef der Wahlkommission, Sadi Güven, in Ankara. Offen ließ er, in wie vielen Wahllokalen es zu dem Vorfall kam. Die Wahlkommission habe entschieden, dass auch diese Stimmzettel als gültig gezählt werden.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) haben internationale Wahlbeobachter in die Türkei entsandt. Insgesamt handele es sich um 63 Beobachter aus 26 Ländern, teilte die OSZE mit. Die internationalen Vertreter können aber nur stichprobenartig beobachten. OSZE und PACE wollten ihren Bericht zum Referendum an diesem Montag in Ankara vorstellen.
Erdogan sagte bei seiner Stimmabgabe in seiner Heimatstadt Istanbul: „Diese Volksabstimmung ist eine Entscheidung über ein neues Regierungssystem, einen Wandel und eine Verwandlung in der Republik Türkei.“ Anhänger Erdogans skandierten im Wahllokal seinen Namen. Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sagte in Ankara: „Wir stimmen heute über das Schicksal der Türkei ab.“
Ministerpräsident Binali Yildirim - dessen Amt im Falle einer Mehrheit für das Präsidialsystem mit der nächsten Wahl abgeschafft würde - sagte in der westtürkischen Küstenmetropole Izmir: „Egal, wie das Ergebnis ausgeht, wir respektieren es. Die Entscheidung, die unser Volk trifft, ist die schönste Entscheidung.“
Erdogan-Anhänger fordern Todesstrafe
Erdogan hatte am letzten Wahlkampftag für den Fall seines Sieges beim Referendum die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. „Die Entscheidung morgen wird den Weg dafür öffnen“, sagte Erdogan am Samstag vor jubelnden Anhängern, die in Sprechchören die Todesstrafe forderten. Er warb zugleich um massenhafte Zustimmung zu seinem Präsidialsystem beim Referendum.
Oppositionsführer Kilicdaroglu warnte am Samstag, dem letzten Wahlkampftag, in Ankara: „Morgen werden wir unsere Entscheidung treffen: Wollen wir ein demokratisches parlamentarisches System, oder wollen wir ein Ein-Mann-Regime?“ Er appellierte an die Wähler: „Würdet Ihr Eure Kinder in einen Bus ohne Bremsen setzen? Schützt die Demokratie, wie ihr Eure Kinder schützen würdet.“
Die Abstimmung war um 16.00 Uhr (MESZ) mit der Schließung der Wahllokale im Westen des Landes beendet worden. Unmittelbar danach begann die Auszählung der Stimmen. Insgesamt waren rund 58,2 Millionen Wahlberechtigte zur Abstimmung aufgerufen: 55,3 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Letztere hatten bereits bis zum Sonntag vergangener Woche die Möglichkeit, in ihren jeweiligen Ländern abzustimmen. In Deutschland hatte die Wahlbeteiligung bei knapp 49 Prozent gelegen.
Das Präsidialsystem würde Erdogan mit deutlich mehr Macht ausstatten. Unter anderem würde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft. Erdogan und seine Anhänger versprechen den Wählern für diesen Fall Stabilität und Wohlstand. Kritiker fürchten eine autoritäre Ein-Mann-Herrschaft Erdogans bis 2029.