Erschwerend kommt hinzu, dass die Kontrollfunktion der Presse in den letzten Monaten systematisch verringert wurde. Kritische Medien gibt es nur noch wenige in der Türkei.
Bisher verliefen die vorangegangenen Wahlen fair. Wahlfälschungen waren kein großes Thema. Dieses Mal aber will die Opposition 37 Prozent der Stimmen anfechten, weil Wahlzettel nicht korrekt abgestempelt worden waren.
Was eindeutig nicht fair verlief, war der Wahlkampf. 90 Prozent der Fernsehsender machten Werbung für ein "Evet", also für ein Ja zum neuen System. Gegner des Referendums wurden in die Nähe von Terroristen gerückt. Fast die gesamte Parteispitze der prokurdischen HDP - entschiedene Gegner der Verfassungsänderung sitzt im Gefängnis. Außerdem ist es fraglich, ob eine solche Richtungsentscheidung überhaupt unter den Bedingungen des Ausnahmezustands stattfinden soll. Der gilt noch immer seit Juli vergangenen Jahres als Reaktion auf den Putschversuch.
Türkei: Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, stimmte das Volk am 16. April in einem Referendum ab. Im Ausland lebende Türken konnten ihre Stimmen vom 27. März bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten geplanten Änderungen.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitsprachrecht.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen.
Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
Ein Nein hätte zwar kurzfristig Instabilität und Unruhe bedeutet. Denn kaum vorstellbar ist es, dass Erdogan ein Nein vorbehaltlos hätte akzeptieren können. In diesem Fall hätte es wahrscheinlich noch in diesem Jahr Neuwahlen gegeben. Erdoğans Position innerhalb der AKP wäre bedroht gewesen. Ein Nein aber hätte eben auch den Weg zu wirklichen demokratischen Reformen ebnen können.
Dieser Weg ist jetzt verschlossen. Das neue System wird erst 2019 in Kraft treten. Sollte Erdogan dann wieder die Wahlen gewinnen, könnte er maximal bis 2034 Präsident bleiben - in jedem Fall aber 2023 das hundertjährige Jubiläum der türkischen Staatsgründung feiern, und symbolisch mit Kemal Atatürk gleichziehen.
Für Unternehmen und Investoren sind beide Ergebnisse ambivalent. Marktbeobachter rechneten bei einem Ja mit einer stärkeren Lira, einem steigenden Aktienmarkt und Kapitalzuflüssen. Die Hoffnung vieler Investoren ist, dass Ruhe und Stabilität zurückkehren, und sich die Regierung wieder dem in den letzten Jahren eingeschlafenen Reformprozess widmen kann. "Für Investoren ist makroökonomische Stabilität am wichtigsten", sagt Johannes Zutt von der Weltbank in Ankara. Bis jetzt gebe es deswegen auch noch keine Anzeichen für eine Finanzkrise.
Langfristig aber ist auch viele Investoren bewusst, dass einer schwachen Demokratie beziehungsweise einer Diktatur nicht die Entwicklung zu einer innovationsgetriebenen Volkswirtschaft gelingen kann. Die Türkei droht dann, in der Middle-Income-Trap zu versacken. Nach dem Putschversuch vom 16. Juli 2016 und der darauffolgenden Hexenjagd auf vermeintliche Gülen-Anhänger hat sich die Atmosphäre an den Universitäten und Hochschulen massiv verschlechtert.
Ein Nein hätte zwar kurzfristig Instabilität und Unruhe bedeutet. Die Türkei wäre dann in den nächsten Monaten ein noch unberechenbarerer Standort. Langfristig aber könnte dies zu nachhaltigem Wachstum führen - vorausgesetzt die Türkei demokratisiert sich wieder.
Mit dem jetzigen knappen Ausgang und der Ankündigung der Opposition, das Ergebnis nicht anerkennen zu wollen, ist sowohl die türkische Demokratie schwer beschädigt, als auch Unsicherheit und Proteste programmiert. Das Referendum hat die ohnehin schon tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft verschärft.