Türkei-Referendum Das denkbar schlechteste Ergebnis

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Weg zu wirklich demokratischen Reformen ist verschlossen


Erschwerend kommt hinzu, dass die Kontrollfunktion der Presse in den letzten Monaten systematisch verringert wurde. Kritische Medien gibt es nur noch wenige in der Türkei.

Bisher verliefen die vorangegangenen Wahlen fair. Wahlfälschungen waren kein großes Thema. Dieses Mal aber will die Opposition 37 Prozent der Stimmen anfechten, weil Wahlzettel nicht korrekt abgestempelt worden waren.

Was eindeutig nicht fair verlief, war der Wahlkampf. 90 Prozent der Fernsehsender machten Werbung für ein "Evet", also für ein Ja zum neuen System. Gegner des Referendums wurden in die Nähe von Terroristen gerückt. Fast die gesamte Parteispitze der prokurdischen HDP - entschiedene Gegner der Verfassungsänderung sitzt im Gefängnis. Außerdem ist es fraglich, ob eine solche Richtungsentscheidung überhaupt unter den Bedingungen des Ausnahmezustands stattfinden soll. Der gilt noch immer seit Juli vergangenen Jahres als Reaktion auf den Putschversuch.

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Ein Nein hätte zwar kurzfristig Instabilität und Unruhe bedeutet. Denn kaum vorstellbar ist es, dass Erdogan ein Nein vorbehaltlos hätte akzeptieren können. In diesem Fall hätte es wahrscheinlich noch in diesem Jahr Neuwahlen gegeben. Erdoğans Position innerhalb der AKP wäre bedroht gewesen. Ein Nein aber hätte eben auch den Weg zu wirklichen demokratischen Reformen ebnen können.

Dieser Weg ist jetzt verschlossen. Das neue System wird erst 2019 in Kraft treten. Sollte Erdogan dann wieder die Wahlen gewinnen, könnte er maximal bis 2034 Präsident bleiben - in jedem Fall aber 2023 das hundertjährige Jubiläum der türkischen Staatsgründung feiern, und symbolisch mit Kemal Atatürk gleichziehen.

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Für Unternehmen und Investoren sind beide Ergebnisse ambivalent. Marktbeobachter rechneten bei einem Ja mit einer stärkeren Lira, einem steigenden Aktienmarkt und Kapitalzuflüssen. Die Hoffnung vieler Investoren ist, dass Ruhe und Stabilität zurückkehren, und sich die Regierung wieder dem in den letzten Jahren eingeschlafenen Reformprozess widmen kann. "Für Investoren ist makroökonomische Stabilität am wichtigsten", sagt Johannes Zutt von der Weltbank in Ankara. Bis jetzt gebe es deswegen auch noch keine Anzeichen für eine Finanzkrise.

Langfristig aber ist auch viele Investoren bewusst, dass einer schwachen Demokratie beziehungsweise einer Diktatur nicht die Entwicklung zu einer innovationsgetriebenen Volkswirtschaft gelingen kann. Die Türkei droht dann, in der Middle-Income-Trap zu versacken. Nach dem Putschversuch vom 16. Juli 2016 und der darauffolgenden Hexenjagd auf vermeintliche Gülen-Anhänger hat sich die Atmosphäre an den Universitäten und Hochschulen massiv verschlechtert.

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Ein Nein hätte zwar kurzfristig Instabilität und Unruhe bedeutet. Die Türkei wäre dann in den nächsten Monaten ein noch unberechenbarerer Standort. Langfristig aber könnte dies zu nachhaltigem Wachstum führen - vorausgesetzt die Türkei demokratisiert sich wieder.

Mit dem jetzigen knappen Ausgang und der Ankündigung der Opposition, das Ergebnis nicht anerkennen zu wollen, ist sowohl die türkische Demokratie schwer beschädigt, als auch Unsicherheit und Proteste programmiert. Das Referendum hat die ohnehin schon tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft verschärft.

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