Nach dem Putschversuch in der Türkei hat die Führung des Landes inzwischen mehr als 10.000 Menschen festnehmen lassen. Unter dem Ausnahmezustand verschärfte sie nun auch die Ausreisekontrollen. Bei der Passkontrolle an den Flughäfen müssten türkische Staatsbürger einen Nachweis ihrer Tätigkeit erbringen, hieß es am Freitag aus Regierungskreisen in Ankara. Damit solle die Flucht von Menschen mit Verbindungen zum Putschversuch verhindert werden.
Bei den andauernden Razzien wurden 10.410 Verdächtige festgenommen, wie Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in der Nacht zum Freitag sagte. 4060 von ihnen seien in Untersuchungshaft. Anadolu berichtete, mehr als 44.500 Staatsbedienstete seien vom Dienst suspendiert worden. Ministerpräsident Binali Yildirim sagte: „Es ist nun die Zeit der Säuberung.“
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn zeigten sich besorgt. In einer gemeinsamen Erklärung verlangten sie, dass die türkische Regierung unter allen Umständen die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten bewahren müsse.
Seit Donnerstag gilt in der Türkei ein 90-tägiger Ausnahmezustand, den Erdogan ausgerufen hat. Ziel ist nach seinen Worten, gegen Anhänger der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorzugehen. Erdogan macht Gülen für den Umsturzversuch aus den Reihen der Streitkräfte verantwortlich. Mehr als 260 Menschen wurden getötet. Die Türkei fordert von den USA Gülens Auslieferung.
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
An Flughäfen müssen Staatsbedienstete nach Angaben aus Regierungskreisen nun eine Bescheinigung ihrer Behörde vorlegen, in der ausdrücklich steht, dass ihrer Ausreise nichts im Wege steht. Das gilt auch für ihre Ehepartner und Kinder. Andere Beschäftigte müssen nachweisen, dass sie im Privatsektor tätig sind.
Die Regierung vermutet, dass zahlreiche Behörden von Anhängern Gülens unterwandert sind. Allen Staatsbediensteten wurde der Urlaub gestrichen. All jene, die sich im Ausland aufhalten, wurden zur Rückkehr aufgefordert.
Erdogan erklärte den 15. Juli, an dem der Putschversuch mit mehr als 260 Toten begann, zum „Gedenktag für Märtyrer“. Er sagte: „Die kommenden Generationen werden die Helden des demokratischen Widerstands vom 15. Juli, ob Zivilisten, Polizisten oder Soldaten, nie vergessen.“ Das Volk solle sich weiterhin auf den Plätzen des Landes versammeln, „bis unser Land diese schwere Phase vollständig hinter sich gelassen hat“. Yildirim warnte nach dem Scheitern des Putsches vor Racheakten von „Verrückten“.
Zum Ausnahmezustand sagte der Sprecher der Regierungspartei AKP, Yasin Aktay, „dass wir die Kritik aus Europa zu diesem Thema nicht nachvollziehen können. In Frankreich und in Belgien gibt es zwei Fälle aus der jüngsten Vergangenheit, in denen jeweils nach Terrorangriffen zunächst für sechs Monate der Ausnahmezustand ausgerufen und danach um sechs Monate verlängert wurde.“
Nach Aktays Angaben handelt es sich bei den 10. 410 festgenommenen Verdächtigen um 7423 Soldaten, 287 Polizisten, 2014 Richter und Staatsanwälte sowie 686 weitere Zivilisten. Unter den festgenommenen Soldaten sind demnach 162 Generäle - fast die Hälfte aller Generäle der zweitgrößten Nato-Armee.
Wegen des harten Vorgehens steht inzwischen auch die sogenannte Heranführungshilfe der EU für die Türkei in Milliardenhöhe in der Kritik. Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) bezeichnete sie als Hohn und forderte das sofortige Einfrieren der Zahlungen. Die Entwicklung der Türkei hin zu einem autoritären Regime beweise, dass die Hilfe „nachweislich völlig wirkungslos“ sei, sagte Singhammer der „Süddeutschen Zeitung“ (Freitag).
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief das Land zur Einhaltung der Menschenrechte auf. Konstitutionelle Ordnung und die internationalen Menschenrechte müssten respektiert werden, forderte Ban in einer am Donnerstag in New York verbreiteten Mitteilung. Dazu gehörten unter anderem Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Unabhängigkeit des Rechts- und Gerichtswesens.
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sieht die europäische Perspektive der Türkei nicht nur durch die etwaige Einführung der Todesstrafe gefährdet. Es gehe auch um die Frage von Willkürherrschaft und den Umgang mit politisch Andersdenkenden, sagte Kurz in der Nachrichtensendung „ZiB2“. „Das sind Bereiche, in denen wir genauso rote Linien festsetzen müssen wie bei der Todesstrafe.“