Türkei Erdogans Alptraum vom Kurdenstaat

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„Steht ihr auf unserer Seite?“

Dazu trägt auch die Entwicklung im Norden Syriens bei. Hier kontrollieren die Kurdenmilizen der YPG nach der Befreiung von Kobane bereits die Grenzregion zur Türkei östlich des Euphrat. Die YPG ist der militärische Arm der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), des syrischen Ablegers der PKK.

Mit der Rückeroberung von Manbidsch hat die PYD ihren Einflussbereich jetzt auch in jene Region westlich des Euphrat ausgedehnt, die bisher teilweise vom IS kontrolliert wurde. Das freut die USA, die in den Kurdenmilizen einen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den IS sehen und entsprechend unterstützen – nicht nur mit Luftangriffen, sondern auch mit Waffen und Militärberatern am Boden. Das missfiel Erdogan immer schon. Im Februar fragte er die USA öffentlich: „Steht ihr auf unserer Seite oder auf der Seite der terroristischen PYD und PKK?“

Jetzt ist für Ankara mit der Präsenz der Kurdenmilizen westlich des Euphrat eine rote Linie überschritten. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Türkei die syrischen Kurdenmilizen gewarnt, den Fluss nicht nach Westen zu überschreiten – und mit Artilleriefeuer geantwortet, als sie es dennoch taten. Zeitweilig erwog man in Ankara sogar eine Invasion Nordsyriens, um die Kurden aus dem Grenzgebiet zu vertreiben. Diese Pläne wurden dann wieder fallengelassen, aus Angst, die Türkei werde in Kämpfe mit dem IS verwickelt, militärisch mit Russland konfrontiert und damit noch tiefer in den Treibsand des Syrienkonflikts hineingezogen.

Nun setzt man auf Appelle: Die PYD müsse sich nun, nach der Rückeroberung von Manbidsch, schleunigst auf die Ostseite des Euphrat zurückziehen, mahnte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag. So war es tatsächlich schon im Mai mit Washington vereinbart. „Die USA müssen ihr Versprechen halten, das erwarten wir“, sagte Cavusoglu.

Manbidsch ist historisch eine arabische Stadt. Dabei soll es auch bleiben, heißt es in Washington. Dass die Kurden die Region aber wieder preisgeben werden, ist unwahrscheinlich. Die PYD möchte ihren Einflussbereich auch westlich des Euphrat ausdehnen und ihrer geplanten Autonomiezone anschließen. In den von ihr kontrollierten Landstrichen östlich des Euphrat praktiziert die PYD bereits eine Selbstverwaltung – mit Religionsfreiheit, Frauenrechten und ohne Todesstrafe.

Das mag dem Westen gefallen, nicht aber Erdogan. Für ihn ist diese Entwicklung ein Alptraum. Mit der kurdischen Autonomiebehörde im Nordirak hat sich die Türkei zwar nach anfänglichem Widerstand schon vor vielen Jahren arrangiert – aus wirtschaftlichen Interessen, aber auch, weil die irakischen Kurden stets auf Distanz zur PKK blieben. Das macht sie aus Erdogans Sicht zu „guten Kurden“.

Mit den Autonomiebestrebungen des PKK-Ablegers PYD im Norden Syriens werden die Karten aber völlig neu gemischt. Die militärischen Erfolge der YPG im Kampf gegen den IS und ihre informelle Allianz mit den USA geben auch der PKK neuen Rückenwind. Brisanter noch aus türkischer Sicht ist die Aussicht, dass die kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens und des Nordiraks über kurz oder lang zusammenwachsen zu einem großen Staat, der das traditionelle Siedlungsgebiet der Kurden umfasst – das heute größtenteils zur Türkei gehört.

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