Türkei und das Vergewaltigungsgesetz Erdogan spielt den Volksversteher

Ein Gesetz in der Türkei sollte tausende Vergewaltiger nachträglich von ihrer Schuld freisprechen. Erst in letzter Sekunde pfeift Staatschef Erdogan seinen Premier zurück – doch nur vorläufig.

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Staatschef Erdogan, ohne dessen Zustimmung in der Türkei nichts läuft, schwieg lange zu den Plänen seines Premiers, das Sexualstrafgesetz zu lockern. Quelle: AP

Athen Die Opposition war empört, Tausende Bürger demonstrierten, sogar die Vereinten Nationen protestierten. Das alles machte auf den türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim keinen Eindruck. Er wollte an seiner umstrittenen Amnestie für Kinderschänder festhalten. Dann sprach Staatschef Recep Tayyip Erdogan ein Machtwort.

Etwa 3.000 türkische Männer, die wegen sexuellen Missbrauchs minderjähriger Mädchen in Haft sitzen, bleiben vorerst hinter Gittern. Noch bis zum Montagabend durften sie hoffen, bald freizukommen. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag wollte Straftätern, die sich sexuell an Minderjährigen vergehen, ihre Strafe unter bestimmten Bedingungen erlassen. An diesem Dienstag sollte das türkische Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Doch dazu wird es erst einmal nicht kommen. Wenige Stunden vor der geplanten Abstimmung zog Premierminister Yildirim den umstrittenen Gesetzentwurf zurück. Er soll nun überarbeitet werden.

Der Entwurf sah vor, dass sexuelle Übergriffe von Männern gegenüber minderjährigen Mädchen straffrei bleiben, wenn der Täter sein Opfer später heiratet. Diese Amnestie sollte einmalig für Sexualstraftaten gelten, die vor dem 16. November 2016 begangen wurden und bei denen nicht „Gewalt, Drohung oder andere Formen von Zwang“ im Spiel waren.

Die islamisch-konservative Regierung brachte den Gesetzentwurf völlig überraschend am vergangenen Freitag in einer Nachtsitzung ins Parlament ein. Die Opposition wurde überrumpelt, der Entwurf in erster Lesung mit den Stimmen von Regierungsabgeordneten verabschiedet. Die zweite, entscheidende Lesung sollte an diesem Dienstag stattfinden.

Kritiker argumentieren, das Gesetz legalisiere rückwirkend Vergewaltigungen und fördere Zwangsehen. Ömer Süha Aldan, ein Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP, erläutert an einem Fallbeispiel, welche Folgen das Gesetz haben würde: Wenn ein 50- oder 60-Jähriger sich an einem elfjährigen Mädchen vergehe und dieses Mädchen dann Jahre später bei deren Ehemündigkeit heirate, bleibe er straffrei. Das junge Mädchen dagegen verbringe ihr ganzes Leben „im Gefängnis einer Zwangsehe“.

Auch die ultra-nationalistische Oppositionspartei MHP protestierte: Der Gesetzentwurf sei „ungeheuerlich“, sagte der stellvertretende MHP-Fraktionschef Erkan Akcay. Frauenverbände kritisierten, die Bestimmung des geplanten Gesetzes, wonach es bei dem Missbrauch nicht „Zwang“ oder „Gewalt“ gegeben haben dürfte, sei absurd, wenn es sich bei dem Opfer um ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen handele. Eine Online-Petition gegen das Gesetz wurde von 730.000 Menschen unterschrieben. In Istanbul und anderen türkischen Städten demonstrierten am Wochenende Tausende gegen die Pläne der Regierung.

Sogar die Vereinten Nationen meldeten sich zu Wort: Das Gesetz werde den Kampf gegen Kinderehen und sexuellen Missbrauch schwächen, kritisierte das Uno-Kinderhilfswerk Unicef. Auch in den Reihen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP regte sich Widerspruch: Viele weibliche AKP-Abgeordnete seien gegen das Gesetz, berichtete die Zeitung „Hürriyet“.


Erdogan pfeift Yildrim zurück

Doch die Regierung verteidigte ihre Pläne. Eheschließungen sind in der Türkei unter dem 18. Lebensjahr nicht erlaubt. Dennoch sind Zwangsehen mit Minderjährigen vor allem im Osten des Landes weit verbreitet – zumal unter der konservativen Klientel der AKP. „Solche Ehen mit Minderjährigen sind eine Realität“, sagte Ministerpräsident Binali Yildirim. Nach dem Gesetz droht dem volljährigen „Ehemann“ wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen eine Haftstrafe von mindestens 16 Jahren. „Diese Familien kennen das Gesetz nicht.“ Das könne dazu führen, dass der Ehemann ins Gefängnis müsse und die Kinder der „Familie“ ohne Vater aufwachsen. Es gebe etwa 3.000 solcher Familien, die man mit dem neuen Gesetz wieder zusammenführen wolle, so Yildirim. Der Opposition warf er vor, sie verdrehe die guten Absichten der Regierung bewusst, um daraus politisches Kapital zu schlagen.

Staatschef Erdogan, ohne dessen Zustimmung in der Türkei nichts läuft, schwieg lange zu den Plänen. Dann meldete er sich am Montagabend zu Wort – und düpierte seinen Premier: Der Gesetzentwurf habe „zahlreiche Reaktionen, kritische Stellungnahmen und Empfehlungen“ ausgelöst, sagte Erdogan. Es sei „sehr zum Wohle der Regierung, diese Probleme in einem Geist des breiten Konsens zu lösen und die Kritik aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu berücksichtigen“.

Premier Yildirim verstand – und zog den Entwurf zurück. Er soll nun erneut im zuständigen Parlamentsausschuss beraten und überarbeitet werden. Dabei werde man „die Vorschläge von Bürgern, Nichtregierungsorganisationen, Experten und Akademikern berücksichtigen.“

Doch das klingt zynisch, wenn man bedenkt, dass die Regierung in den Monaten seit dem gescheiterten Putsch vom Juli kritische Stimmen systematisch zum Schweigen bringt. Hunderte Nichtregierungsorganisationen wurden verboten, fast 65.00 Akademiker entlassen und 195 Medien geschlossen hat. Und die „Säuberungen“ gehen in unvermindertem Tempo weiter: Nachdem Ende vergangener Woche Haftbefehle gegen 103 Akademiker der Istanbuler Yildiz Universität ausgestellt wurden, ließ Erdogan am Montagabend per Dekret weitere 9.977 Staatsbedienstete feuern, darunter 1.988 Soldaten und 7.586 Polizisten. Weitere 5.434 Beamte wurden vorläufig suspendiert.

Ebenfalls per Dekret ordnete der Staatschef die Schließung von 375 Vereinen, 19 Kliniken und neun Medien an. Bei Razzien wurden am Montag 88 Personen festgenommen, 76 kamen in Untersuchungshaft – ein ganz normaler Wochenauftakt in Erdogans Türkei. Seit dem versuchten Coup wurden bereits rund 115.000 Staatsbedienstete entlassen oder suspendiert. Etwa 75.000 Menschen wurden festgenommen, 35.000 sitzen in Untersuchungshaft.

Beim vorläufigen Rückzug des Gesetzes könnten auch die EU-Beitrittsverhandlungen eine Rolle gespielt haben. Das EU-Parlament diskutiert am heutigen Dienstag über ein Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Dabei geht es vor allem aber um den versuchten Putsch und die jüngste Verhaftungswelle – nicht um das Sexualstraftäter-Gesetz. Am Donnerstag soll über einen Antrag abgestimmt werden.

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