Türkei und EU Auf beiden Ohren taub

Die EU und Türkei werden Opfer der eigenen Sturheit. Keiner hört dem anderen zu, schuld sind beide Seiten. Ein Paartherapeut hätte alle Hände voll zu tun – und würde statt Auszeit eher Gespräche verordnen. Ein Kommentar.

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Beide Seiten schalten jetzt auf taub: Das Europäische Parlament will mit der Türkei vorläufig nichts am Hut haben. Und Erdogan pfeift auf die gesamte EU. Quelle: dpa

Zürich Kann man wirklich so sehr aneinander vorbeireden? Das Europäische Parlament fordert mit aller Härte, die Beitrittsgespräche mit der Türkei abzubrechen; und der türkische Präsident fordert von der EU, den Kampf der Türkei gegen ihre terroristischen Bedrohungen endlich anzuerkennen. Die EU sieht die Türkei auf dem Weg in die Diktatur; die türkische Regierung hält dem Staatenbund vor, Scheuklappen zu tragen und forderte sie auf , sich „endlich mit den schwierigen Themen auseinandersetzen“, wie der stellvertretende Ministerpräsident Kurtulmus sich am Dienstag zitieren ließ.

Die schwierigen Themen, das sind aus seiner Sicht: der Kampf gegen den IS, die Gülen-Bewegung und die PKK.

Es kommt allerdings gar nicht erst so weit, dass über Gemeinsamkeiten gesprochen wird. Keiner hört dem anderen zu. Und das sind beide Seiten schuld. Mit der nicht bindenden Entscheidung, die Beitrittsgespräche mit der Türkei erst einmal auszusetzen, hat das Europäische Parlament zwei Tore geschossen: eines ins türkische und eines ins eigene Tor. Würden die EU und die Türkei eine Beziehung führen, würde man sie schleunigst zu einem Paartherapeuten schicken. Und der würde als Erstes fragen: Wie konnte es so weit kommen?

Der Anfang vom Ende begann noch in der Nacht auf den 16. Juli dieses Jahres. Gleich nach dem Putschversuch mutmaßten in Europa viele, der Putsch könne das Land vom Joch Erdogans befreien – oder umgekehrt, der Umsturzversuch könne von Ankara orchestriert worden sein, um den Notstand ausrufen zu können. Politiker, viele Bürger und auch Journalisten hierzulande warnten, dass Menschenrechtsverletzungen begangen würden; und das, während die Angehörigen noch damit beschäftigt waren, die beim Umsturzversuch Gestorbenen zu beerdigen.

Zur Erinnerung: Panzer griffen Menschengruppen an, Kampfjets zerstörten Teile des Parlamentsgebäudes und des Regierungssitzes, 270 Menschen verloren ihr Leben. Kein Wunder, dass viele Türken die harschen Vorwürfe aus Europa als Affront verstanden.

Das Dramatische ist: Europa hatte mit seinen Warnungen recht. Die Tatsache, dass die türkischen Behörden inzwischen mit aller Härte gegen Oppositionelle vorgehen, sehen viele als Bestätigung ihrer Prophezeiung und als Begründung, die Trauer vieler Türken nicht teilen zu müssen.


Gerechtfertigtes Misstrauen

Die EU hat sich damit selbst in eine Lage gebracht, in der sie gar nicht mehr anders kann, als das Vorgehen zu verurteilen und rote Linien zu ziehen, die doch eigentlich schon längst überschritten worden sind. Ankara wiederum hat sich mit der eingeschnappten Haltung selbst die Chance genommen, den Partnern im Westen genau zu erklären, womit es das Land zu tun hat.

Die Fakten sprechen dort für sich: Beinahe täglich kommt es zu tödlichen Anschlägen in dem Land, von gleich mehreren Gruppierungen wie dem IS und der PKK. Der Putsch hat die Politiker in eine Schockstarre versetzt – was sich auch an solch wahnwitzigen Gesetzentwürfen wie der Amnestie für Missbrauchstäter zeigen lässt – und die Behörden sind mit der rechtsstaatlichen Aufarbeitung überfordert.

Die einzige Lösung wird in einem Kahlschlag gesehen, dem auch Menschen zum Opfer fallen, die sonst nie in den Verdacht geraten wären, Straftaten zu begehen oder Terrorismus zu unterstützen.

Es wundert außerdem nicht, dass das EU-Parlament sich vehement gegen weitere Beitrittsgespräche ausspricht, während Kommission und Außenbeauftragte den Gesprächsfaden nicht abreißen wollen und vor den Folgen eines Einfrierens der Gespräche warnen. Die Funktionäre sehen nach wie vor die Vorteile darin, den Partner Türkei an sich zu binden, während die Volksvertreter dem öffentlichen Misstrauen Ausdruck verleihen.

Dieses öffentliche Misstrauen ist im Nachhinein gerechtfertigt. Die Vorteile werden allerdings unter den Teppich gekehrt. Vor allem die Türkei kann Europa dabei helfen, den Flüchtlingsstrom nachhaltig einzudämmen, und damit auch das Emporkommen radikaler Parteien auf dem Kontinent. Das Gleiche gilt – trotz aller Versäumnisse in der Vergangenheit – wohl auch für Bedrohungen durch den IS. Und nicht zuletzt profitieren beide Regionen wirtschaftlich derart voneinander, dass sich mancher Manager nur an die Stirn fassen kann ob der Attitüden, die Politiker dies- und jenseits des Bosporus an den Tag legen.

Aber: Die Fronten sind verhärtet, die Rhetorik sowohl aus Ankara wie auch aus Brüssel gibt der ohnehin miesen Stimmung den Rest. Jetzt schalten beide Seiten auf taub: Das Europäische Parlament will mit der Türkei vorläufig nichts am Hut haben. Und Erdogan pfeift auf die gesamte EU. Ein Paartherapeut hätte alle Hände voll zu tun – und würde statt einer Auszeit eher viele Beratungsgespräche verordnen.

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