Türkei Warum Erdogan syrische Flüchtlinge einbürgern will

Der türkische Präsident Erdogan will syrischen Flüchtlingen eine neue Heimat bieten. Doch nur Akademiker und qualifizierte Fachkräfte sollen zum Zuge kommen. Dahinter könnte politisches Kalkül stecken.

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Im Flüchtlingscamp Sanliurfa. Der türkische Premier will mehr Syrer einbrügern. Quelle: dpa

Athen Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan will syrische Bürgerkriegsflüchtlinge in großem Stil einbürgern. Offiziell soll das die Integration der Flüchtlinge fördern. Erdogan dürfte damit aber auch politische Hintergedanken verbinden: Die eingebürgerten Syrer könnten dankbare Wähler werden.

Die türkische Regierung wolle syrischen Flüchtlingen, „die für unser Land nützlich sein können“, den Weg zum Erwerb der türkischen Staatsbürgerschaft erleichtern, bestätigte der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus am Montag nach einer Kabinettsitzung in Ankara. „Wir sind noch bei der Arbeit, das Innenministerium beschäftigt sich gerade mit den Details“, sagte Kurtulmus.

Voraussetzung für eine Einbürgerung sei, dass die Bewerber „niemals in irgendwelche terroristischen Aktivitäten verwickelt“ gewesen seien. Jene, die türkische Staatsbürger werden, könnten „eine Brücke zwischen beiden Ländern sein“, so der Vizepremier.

In der Türkei leben etwa 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge. Gut 285.000 von ihnen sind in 25 staatlich organisierten Lagern in der Nähe der Grenze untergebracht. Die große Mehrzahl der Flüchtlinge ist in der einen oder anderen Form bereits sesshaft geworden. So hat die Grenzstadt Kilis heute 230.000 Einwohner – doppelt so viele wie vor fünf Jahren. 120.000 von ihnen sind syrische Flüchtlinge. Die Nachbarprovinz Gaziantep beherbergt 350.000 Syrer, die dort inzwischen über 600 Unternehmen aufgebaut haben. „Die Syrer sind die treibende Kraft unserer Wirtschaft“, sagt Eyüp Bartik, der Vorsitzende der örtlichen Handelskammer.

Bis zu 300.000 syrische Flüchtlinge könnten die türkische Staatsbürgerschaft bekommen, berichtete die Zeitung „Habertürk“ unter Berufung auf Regierungskreise. Infrage für eine Einbürgerung kommen danach nur Akademiker und gut qualifizierte Facharbeiter. Das zeigt auch der Hinweis des Vizepremiers Kurtulmus, die Bewerber müssten „nützlich“ sein. Für sie könnte die übliche Wartefrist von fünf Jahren, die ein Ausländer in der Türkei zugebracht haben muss, bevor er eine Einbürgerung beantragen kann, gestrichen werden, schreibt „Habertürk“.

Präsident Erdogan hatte bereits vor gut einer Woche die Pläne zur Einbürgerung erläutert. „Wir sehen Euch als Brüder und Schwestern“, rief Erdogan syrischen Flüchtlingen in der Grenzstadt Kilis zu. „Wenn auch Ihr in uns Brüder und Schwestern seht, dann ist die Türkei Eure Heimat“, sagte Erdogan.

Auf dem Rückflug vom Nato-Gipfel erläuterte Erdogan jetzt gegenüber mitreisenden Reportern das Vorhaben: „Es gibt keinen Grund, (mit den Einbürgerungen) zu zögern. Wir leben als 79 Millionen Menschen auf 780.000 Quadratkilometern, während Deutschland, das nur halb so groß ist, 85 Millionen Einwohner hat“, rechnete Erdogan vor. Heute könne ein Türke in Deutschland oder den USA die dortige Staatsbürgerschaft erwerben; das sollte auch für Syrer in der Türkei möglich sein, zumal beide Völker eine „gemeinsame Geschichte“ hätten, meinte Erdogan.


Große Vorbehalte in der türkischen Bevölkerung

In der türkischen Bevölkerung gibt es aber erhebliche Vorbehalte, wie die Diskussion in den sozialen Netzwerken zeigt. Viele Türken sehen in den Syrern unwillkommene Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt – Stichwort Lohndumping. Unter Hashtags wie #suriyelilerehayir („Nein zu den Syrern“) oder #ulkemdeSuriyeliIstemiyorum („Ich will keine Syrer in meinem Land“) liest man Einträge wie „Hilfe ja, Staatsbürgerschaft nein!“ oder „Am einfachsten wäre es, alle Syrer zurückzuschicken“.

Eine Einbürgerung könnte die Integration der Flüchtlinge erleichtern, argumentieren Wissenschaftler wie der Istanbuler Soziologe Yusuf Adigüzel. Türkische Oppositionspolitiker vermuten hinter den Einbürgerungsplänen allerdings politisches Kalkül: Erdogan sehe in den Neubürgern dankbare Wähler seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP).

Die AKP demonstriere mit ihren Einbürgerungsplänen, dass sie „mehr an ihrem eigenen politischen Wohlergehen interessiert ist als am Schicksal dieser armen Menschen“, kritisiert Veli Agbada, Vorstandsmitglied der größten türkischen Oppositionspartei CHP. Es gehe der Regierung um „Wahl-Kalkül und Assimilierung“. Die Einbürgerungswelle werde „ein Trauma in der Gesellschaft“ verursachen, warnt der Oppositionspolitiker.

Erdogan will sich mit einer Verfassungsänderung und der Einführung eines Präsidialsystems eine noch größere Machtfülle sichern. Bisher fehlt ihm dafür aber im Parlament die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Einige hunderttausend neue Wählerstimmen wären da willkommen.

Eine massenhafte Einbürgerung syrischer Flüchtlinge könnte vor allem die Demografie und die politische Landkarte in der kurdisch geprägten Südosttürkei erheblich verändern. Vor allem dem Wahlerfolg der pro-kurdischen Partei HDP ist es geschuldet, dass Erdogans AKP bei der Wahl vom November 2015 die Zweidrittelmehrheit verfehlte. Mit den Syrern hätte Erdogan ein Gegengewicht zu den Kurden.

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