Türkei Was Europa von Erdogan hält

Europa braucht die Türkei als Partner – vor allem in der Flüchtlingskrise. Doch Präsident Erdogan polarisiert – und nicht alle EU-Mitglieder sind mit seiner Politik einverstanden. Unsere Korrespondenten berichten.

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Europa braucht die Türkei, brauht den türkischen Präsidenten Erdogan. Aber nicht alle Länder sind von der Haltung des Partners begeistert. Quelle: Reuters

Großbritannien: „Benzin in der Nähe von Feuer“

Der ehemalige Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 hat jüngst mit sehr scharfen Worten das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei angeprangert. Die damit verbundene Visafreiheit für Türken sei so ähnlich wie die „Lagerung von Benzin in der Nähe von Feuer“, das man eigentlich zu löschen versuche, sagte Richard Dearlove bei einer BBC-Veranstaltung Anfang dieser Woche. Er warnte zudem vor einem „Populisten-Aufstand“ in Europa, sollten die Behörden die Flüchtlingsströme nicht in den Griff bekommen.

Zuvor haben auf der Insel bereits europaskeptische Politiker wie Ukip-Chef Nigel Farage, die sich für den Austritt Großbritanniens aus der EU stark machen, den Flüchtlingsdeal kritisiert. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan habe die EU schikaniert und erpresst, damit diese sich auf seine Mithilfe zur Eindämmung der Flüchtlingsströme einlasse. Es sei besorgniserregend, dass dadurch das Verfahren, dass die Türkei EU-Mitglied werden könne, wohl beschleunigt werde. Und eine EU-Mitgliedschaft der Türkei werde dazu führen, dass man noch mehr sexuelle Übergriffe wie in der Silvesternacht in Köln erleben werde.

Zwischenzeitlich hat das britische Magazin „Spectator“ die Debatte um Erdogan und das Erdogan-Gedicht des Satirikers Jan Böhmermann aufgegriffen und einen Lyrikwettbewerb gestartet. Noch gut einen Monat lang können Schmähgedichte auf Erdogan eingereicht werden. Der Sieger bekommt 1000 Pfund und wird am 23. Juni verkündet – dem Tag, an dem die Briten über ihre künftigen Beziehungen zu EU abstimmen.
Katharina Slodczyk, London

Schweden: Opposition und Medien fordern mehr Kritik

Ähnlich wie Deutschland hat Schweden ein großes Interesse an einer Einigung mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage. Das skandinavische Land nahm im vergangenen Jahr gemessen an der Bevölkerungszahl die meisten Flüchtlinge aller EU-Staaten auf. Insofern ist der rot-grünen Minderheitsregierung in Stockholm sehr viel daran gelegen, dass das Abkommen mit Ankara tatsächlich umgesetzt werden kann.

Der sozialdemokratische Regierungschef Stefan Löfvén unterstrich allerdings vergangene Woche, dass die Visa-Freiheit für die Türkei nur dann eingeführt werden kann, wenn das Land alle 72 von der EU gestellten Forderungen erfüllt. „Ich bin der Meinung, dass wir die Regeln verteidigen müssen, die für die Erteilung der Visa-Freiheit und der EU-Beitrittsverhandlungen gelten“, sagte Löfvén. Trotz Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei und der Verfolgung von Kritikern von Präsident Erdogan vermeidet die Regierung in Stockholm eine klare und deutliche Verurteilung Ankaras.

Bei der Opposition und in den Medien mehren sich dagegen die Kommentare, in denen das türkische Vorgehen gegen die Kurden scharf verurteilt wird. Der außenpolitische Sprecher der Linkspartei, die zwar nicht der Regierung angehört, sie aber unterstützt, forderte Löfvén und seine Außenministerin Margot Wallström in einem offenen Brief auf, endlich Stellung zu beziehen. „Wallström und die Regierung müssen sich entscheiden. Soll Schweden eine Kraft für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei sein und Klartext zu den täglichen Übergriffen sprechen? Oder sollen wir die türkischen Übergriffe gegenüber syrischen Flüchtlingen unterstützen?“, fragte Hans Linde.

Die Armenier-Frage spielte in der Presse bislang nur eine untergeordnete Rolle. Der fortschreitende Demokratie-Abbau wird dagegen von den Medien häufig aufgegriffen. Zuletzt am Dienstag dieser Woche in einer Reportage über den wegen des angeblichen Verrats von Staatsgeheimnissen verurteilten Chefredakteurs der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, der in Stockholm mit einem Preis ausgezeichnet wird.
Helmut Steuer, Stockholm


Österreich: Islamhasser als Bundespräsident?

Die rechtspopulistische FPÖ – nach Meinungsumfragen stärkste Partei im Alpenland – fährt seit Jahren einen ausgesprochen kritischen Kurs gegen die Türkei und deren Präsidenten Erdogan. „Wenn die Türkei Mitglied der EU wird, müssten wir darüber eine Volksabstimmung machen. Die Türkei ist kein europäisches Land. Da werden Redaktionen gestürmt. Da werden Frauen mit Gummigeschossen beschossen. Die Frau von Erdogan träumt vom Harem“, polemisierte der FPÖ-Chefideologe Norbert Hofer gegenüber dem Boulevardblatt „Österreich“.

Hofer kämpft am Sonntag in einer Stichwahl gegen den Grünen-Kandidaten Alexander van der Bellen um das Amt des Bundespräsidenten in Österreich. Sollte er gewinnen, wäre der im Burgenland lebende Politiker das erste islamophobe Staatsoberhaupt in Westeuropa.

Der neue Bundeskanzler Christian Kern hat sich noch nicht zu Erdogan und seinem Erpressungsversuch gegenüber der EU geäußert. Österreichs frisch gebackener Regierungschef wird sich zurückhalten, glauben Insider in Wien. Denn ähnlich wie Deutschland profitiert auch Österreich davon, dass auf Grund der Vereinbarung mit Erdogan der Flüchtlingszustrom an den Außengrenzen fast versiegt ist. Denn sollte das Abkommen mit der Türkei wegen der Visafreiheit platzen, drohen Zustände wie vergangenen Spätsommer und Herbst auf der Balkanroute. Davon würde insbesondere die rechtspopulistische Opposition in Wien profitieren.

Kerns glückloser Vorgänger Werner Faymann (SPÖ) sowie Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner haben Merkel bei ihrem Deal mit der Türkei unterstützt. Jedoch warnte der konservative Mitterlehner bereits vor der Unterzeichnung der Vereinbarung mit Erdogan. „Es geht darum, eine Art Aussetzungs- oder Kündigungsklausel aufzunehmen, wenn hier etwa bei der Umsetzung Probleme auftreten“, betonte der österreichische Vizekanzler. So eine Klausel könnte nicht nur vor Missbrauch der Visafreiheit schützen, sondern auch vor einer Nichterfüllung des Flüchtlingsabkommens, sagte Mitterlehner noch im März.
Hans-Peter Siebenhaar, Wien

Finnland: Die EU ist erpressbar

In Finnland, das deutlich weniger Flüchtlinge als Nachbar Schweden aufgenommen hat, ist die offizielle Kritik an der Türkei deutlich härter als in Stockholm. Der ehemalige Außenminister und heutiges Mitglied des außenpolitischen Ausschusses, Erkki Tuomioja, forderte vergangene Woche, dass das Verhältnis der EU zur Türkei neu überdacht werden muss. Zwar habe die EU Bedingungen für die Einführung der Visa-Freiheit gestellt, doch Tuomioja fragt: „Wie ist es möglich, dass sich dieser Prozess in einer Woche nach vorne entwickelte, während gleichzeitig die Demokratie- und Menschenrechtsentwicklung nach hinten ging“.

Der Sozialdemokrat gibt die Antwort selbst und spricht von „einem großen politischen Einfluss“ im Hintergrund. „Hält man sich an die objektiven Fakten, kann es nicht der richtige Zeitpunkt sein“, erklärt der ehemalige Außenminister und konstatiert: „Die Türkei ist auf dem Weg zu einem sehr autoritären System“.

Auch Ozan Yanar von den finnischen Grünen ist skeptisch, was die Visa-Freiheit für türkische Bürger betrifft. Sie sei eine gute Sache für das türkische Volk, doch sie komme zum falschen Zeitpunkt. „Es darf nicht sein, dass die Türkei belohnt wird, wenn die Entwicklung dort in eine falsche Richtung zeigt“. In der finnischen Presse sind sich die meisten Kommentatoren einig, dass die EU wegen der Flüchtlingssituation erpressbar geworden sei.
Helmut Steuer, Stockholm


Frankreich: Hollande pocht auf die Visa-Bedingungen

Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat sich in einem Interview hinter die Vereinbarung der EU mit der Türkei gestellt. „Die vorgesehenen Milliarden an Euro dienen dazu, eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei zu ermöglichen“, sagte Hollande. Er habe sich gemeinsam mit der Bundeskanzlerin beim EU-Gipfel dafür eingesetzt, um einen unbegrenzten Zustrom von Flüchtlingen in die EU zu stoppen.

Hollande betonte allerdings, dass alle vorgesehenen Bedingungen eingehalten werden müssten. Die Visafreit für türkische Bürger können nur kommen, wenn die von der EU formulierten 72 Kriterien von der Türkei ohne Ausnahme umgesetzt werden.

Bekanntlich hat Präsident Erdogan einige davon, die sich auf Bürger- und Menschenrechte beziehen, wiederholt als Eingriff in die inneren Angelegenheiten der Türkei abgelehnt. Hollande machte klar, dass Frankreich Erdogan keinesfalls weiter entgegenkommen will.

In der französischen Öffentlichkeit wird eine intensive und kontroverse Auseinandersetzung um die Vereinbarung mit der Türkei geführt. Einige Intellektuelle, NGOs oder Medien kritisieren, die EU habe sich zu sehr von der Türkei abhängig gemacht. „Ein Schandvertrag auf dem Rücken der Flüchtlinge“, zürnte die Vorsitzende von Amnesty International in Frankreich.

In den Medien ist die Bewertung etwas verhaltener. Man weiß, dass Frankreich selber nicht mehr als 60.000 Flüchtlinge in zwei Jahren aufnehmen will und sieht den starken Rechtsruck in Österreich. Deshalb wird trotz mancher Kritik auch in eher linken Medien wie Libération anerkennend darüber berichtet, dass sich „der Flüchtlingsstrom nach Griechenland um 90 Prozent verringert hat.“
Thomas Hanke, Paris


Dänemark: Lob für das Abkommen mit Erdogan

Die dänische Regierung, die immer wieder mit ihrer restriktiven Flüchtlingspolitik für Schlagzeilen gesorgt hat, will ein Abkommen mit der Türkei. „Ich trete stark für ein Abkommen ein, um die Menschenhändler zu besiegen“, erklärte Regierungschef Lars Løkke Rasmussen vor einem Monat.

Auch nach massiven Angriffen auf die Pressefreiheit hat sich die Haltung der dänischen Mitte-Rechts-Regierung nicht verändert: Ein Abkommen, durch das die Flüchtlingszahlen reduziert werden können, soll her. Der Vorsitzende der dänischen Sozialdemokraten im EU-Parlament, Peter Hummelgaard, bezeichnete das Abkommen als „die beste aller schlechten Lösungen“.

Die Furcht vor einem Wiederansteigen der Flüchtlingszahlen lässt viele Politiker die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen verschließen, meinen die meisten Kommentatoren. Die dänische Minderheitsregierung, die stets von der Unterstützung der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei abhängig ist, unterstützt das Abkommen trotz aller Vorbehalte.
Helmut Steuer, Stockholm

Spanien: „Neosultanimus“ in der Türkei

Offizielle Kommentare zu Erdogans Politik gibt es aus Spanien nicht: Das Land hat derzeit nur eine geschäftsführende Regierung, nachdem es den Parteien seit den Parlamentswahlen am 20. Dezember vergangenen Jahres nicht gelungen war, eine Regierungskoalition zu bilden. Am 26. Juni wird in Spanien erneut gewählt.

Die spanischen Zeitungen vor allem über die Einschnitte bei der Pressefreiheit und den zunehmenden Machtgewinn des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die konservative Tageszeitung El Mundo berichtet, wie einer ihrer Reporter an einem türkischen Flughafen von Sicherheitsbeamten bei der Einreise nach Kontakten zur pro-kurdischen Partei HDP befragt und eingeschüchtert worden ist.

Die liberale Zeitung El País kritisiert den „Neosultanismus“ von Erdogan. Es sei klar, dass Erdogan nach absoluter Macht strebe, die er weder durch Gewaltenteilung noch durch eine freie Presse einschränken wolle. In einem Kommentar schreibt die Zeitung: „Erdogan verzichtet auf die Fundamente einer modernen Türkei und hat eine weltliche parlamentarische Republik in ein präsidentielles Regime verwandelt, das mit dem Islam flirtet.“
Sandra Louven, Madrid


Griechenland: Erdogan, der Scharfmacher

Wenn sich der griechische Premier Alexis Tsipras mit seinen engsten Beratern zum „proinó kafé“ – die Morgenlage, bei der Kaffee serviert wird – trifft, steht in diesen Tagen immer häufiger die Entwicklung in der benachbarten Türkei auf der Agenda – und die Personalie Erdogan. Dass der türkische Präsident in Zukunft eine noch dominierendere Rolle spielen wird, gilt als ausgemacht – und löst in Athen Besorgnisse aus.

Diese spiegeln sich vor allem in den Medien. Erdogan gilt bei den meisten Kommentatoren und Kolumnisten als Scharfmacher. Die griechischen Gazetten und Internetportale berichten auch genüsslich über Erdogans Fehde mit Jan Böhmermann, wobei die Sympathien der griechischen Öffentlichkeit eindeutig auf Seiten des Satirikers liegen.

Die Regierung dagegen hält sich mit öffentlichen Kommentaren über Erdogan auffallend zurück. Das Thema ist ein Tabu. Tsipras weiß: Er darf den mächtigen Mann am Bosporus nicht provozieren. Wenn der Flüchtlingspakt mit der EU platzt, bekäme Griechenland das als erstes Land zu spüren. Aktuell kommen nur noch wenige Migranten und Flüchtlinge von der türkischen Küste über die Ägäis. Am Montag waren es 49, am Dienstag 20 – gegenüber mehr als 2000 pro Tag zu Jahresanfang. Dass der Strom versiegt, ist einerseits auf die Schließung der Balkanroute zurückzuführen, andererseits aber auch auf verstärkte Kontrollen der türkischen Behörden an der Küste. Macht Erdogan seine Drohung wahr, die Flüchtlinge nach Europa zu schicken, hätte Griechenland darunter besonders zu leiden.

In Athen gilt es als sicher, dass Erdogan nach der Ablösung von Premierminister Ahmet Davutoglu, die am Sonntag mit der Wahl eines neuen Vorsitzenden der Regierungspartei AKP besiegelt wird, stärker als bisher der Außenpolitik seinen Stempel aufdrücken wird.

Was das für die in Griechenland genau verfolgten Verhandlungen um eine Wiedervereinigung Zyperns bedeuten wird, ist noch unklar. Offen ist auch, welchen Kurs Erdogan in den bilateralen Beziehungen zu Griechenland steuern wird. Sie sind belastet durch den jahrzehntealten Streit um die Hoheitsrechte in der Ägäis. Premier Tsipras will den UN-Gipfel für humanitäre Hilfe kommende Woche in Istanbul nutzen, um persönlich zu sondieren, wohin die Reise geht: Der griechische Premier bemüht sich am Rande des Gipfels um einen Gesprächstermin mit Erdogan.
Gerd Höhler, Athen

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