Türkei Wenn Erdogan das Referendum (nicht) gewinnt …

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Wie die Europäer Erdogan unter Druck setzen können

Zweites Szenario: Die Türken lehnen die neue Verfassung ab. Nach der Parlamentswahl 2015, bei der es schon damals um die Verfassungsänderung ging, hätte Erdogan erneut eine Niederlage erlitten. Ioannis N. Grigoriadis von der Stiftung Wissenschaft und Politik denkt nicht, dass der Staatspräsident sich geschlagen geben würde. „Neuwahlen wären am wahrscheinlichsten“, sagt der Politikwissenschaftler. Erdogan würde demnach probieren, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu bekommen, mit der er die Verfassung trotzdem ändern könnte. Von diesem Plan würde er nur dann ablassen, ist Grigoriadis überzeugt, wenn er das Referendum mit deutlicher Mehrheit verlieren würde.

Davon hinge auch ab, ob sich ein innerparteilicher Gegner gegen Erdogan auflehnt. Je deutlicher die Niederlage, desto wahrscheinlicher wäre das, meint Roy Karadag. „Zum ersten Mal seit 15 Jahren könnte ihm jemand seine Position streitig machen. Die Frage ist, ob er dann noch die faktische Autorität hätte, um sich zu behaupten.“

Unabhängig davon, wie das Referendum ausgeht, werden die Europäische Union und die Türkei an ihrem schwer beschädigten Verhältnis arbeiten müssen. „Mit ein wenig Diplomatie lässt sich das nicht wieder kitten“, meint Karadag. Wichtigster Punkt sind aus seiner Sicht die EU-Beitrittsverhandlungen. „Die türkische Bevölkerung will wissen, was beim Thema Beitritt noch möglich ist. Und die Europäer ebenfalls.“ Darauf müssten Türkei und EU eine Antwort finden. „Sonst verspielen sie jede Glaubwürdigkeit.“ An eine demonstrative Versöhnung glaubt der Politikwissenschaftler nicht. „Nach allem, was passiert ist, wäre das eine ziemliche Überraschung“, sagt Karadag.

Auch wenn eine Versöhnung eine Überraschung wäre, kann Erdogan seinen Konfrontationskurs mit den Europäern kaum fortsetzen. Die Türken brauchen nämlich dringend mehr zollfreien Handel mit den Europäern. Mitte Februar war der türkische Vizepremier Mehmet Şimşek zu Besuch in Berlin, um eine Vertiefung der Zollunion zwischen EU und Türkei auszuloten. Erdal Yalcin vom Münchner ifo Institut hat ausgerechnet, dass das türkische Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zehn Jahren um über 1,8 Prozent zusätzlich wachsen könnte, wenn der freie Handel nicht nur für die Industrie gelte, sondern auch für Agrar- und Dienstleistungen. Im besten Fall stiegen türkische Exporte in die EU um 70 Prozent. „Schon die Drohung, die Zollunion nicht zu vertiefen, würde die türkische Lira auf Talfahrt schicken“, sagt Yalcin. Bislang hat Erdogan die türkische Wirtschaft mit staatlichen Finanzspritzen unterstützt. Ob er nun gestärkt oder geschwächt aus dem Referendum hervorgeht – Erdogan muss sein Land vor einer Rezession bewahren.

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