Türkischer Militäreinsatz Volles Risiko für Erdogan

Die Türkei marschiert erneut in Syrien ein und will dort in Absprache mit Russland die Stadt Idlib vor Extremisten sichern. Der Einmarsch kann gefährlich werden und könnte die Machtverhältnisse in der Region neu ordnen.

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Der türkische Präsident kündigte am Samstag während einer Konferenz seiner AKP-Partei eine militärische Operation im Nordwesten von Syrien an. Quelle: AP

Istanbul Wäre Recep Tayyip Erdogan Schachspieler, dann einer, der seine Taktik regelmäßig wechselt. Mal überrascht er, mal nennt er gleich zwei seiner nächsten Schritte im Voraus. So auch in dieser Woche, als mehrere Tage zuvor einen Militäreinsatz in Syrien angekündigt hatte. Am Wochenende war es soweit: „Es findet eine ernsthafte Operation in Idlib statt, die fortgesetzt wird“, sagte Erdogan in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache an Mitglieder seiner Regierungspartei AKP in der westtürkischen Stadt Afyon. „Wir können unsere Brüder, die aus Aleppo geflohen sind, nicht der Gnade terroristischer Organisationen überlassen.“

Syrien wird allmählich in Besatzungszonen aufgeteilt. Nach einer engen Absprache zwischen Regierungsverantwortlichen und Militärs der drei Länder Türkei, Russland und Iran fielen am Samstag Rebellen der Freien Syrischen Armee auf Lastwagen und mit automatischen Waffen bewaffnet über die Türkei in der nordwestsyrischen Stadt Idlib ein. Zuvor hatten die Truppen grünes Licht für die Operation bekommen, berichtete die Zeitung Hurriyet. Erdogan sagte, türkische Truppen hätten die Grenze noch nicht überschritten und die Operation wurde von den Rebellen der FSA durchgeführt. Dieselben Truppen hatten zuvor bereits die syrische Stadt al-Bab vom islamischen Staat zurückerobert.

Der Schritt kommt, nachdem Ende September der russische Staatschef Wladimir Putin in die türkische Hauptstadt Ankara gereist war und Erdogan nach Teheran flog, um sich mit dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani zu treffen. Die Zusammenarbeit des türkischen Staatschefs mit Russland und dem Iran kommt auch angesichts der verschärften Spannungen mit den USA zustande; nicht zuletzt seit Washingtons Entscheidung, Waffen an kurdische Gruppen zu liefern, die von der Türkei als Terroristen betrachtet werden.

Beobachter erwarten, dass türkische Truppen schon bald nachrücken dürften. Staatschef Erdogan hatte selbst eine entsprechende Bemerkung auf dem Rückflug von seinem Staatsbesuch in Teheran Anfang gemacht: „Türkische Truppen werden in Idlib stationiert sein, während russische Truppen außerhalb der Stadt eingesetzt werden“ sagte Erdogan. Zuvor hatten die drei Staaten in der kasachischen Hauptstadt Astana vereinbart, eine kampffreie Zone in der gleichnamigen Provinz Idlib einzurichten. In den vergangenen Jahren war die Region von ehemaligen al-Qaida-Brigaden kontrolliert worden.

Die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Russland ist für das westliche Verteidigungsbündnis Nato eine heikle Angelegenheit. Auf der anderen Seite: Andere Bündnismitglieder, etwa Deutschland und andere europäische Staaten, haben sich bisher geweigert, direkt in den Syrienkrieg einzugreifen. Viel mehr noch zeigt sich bei der engen Absprache mit dem Kreml, dass die Türkei ihre Syrienstrategie inzwischen komplett über Bord geworfen hat. Jahrelang propagierte die regierende AKP einen Regimewechsel im Nachbarland und stellte sich offensiv gegen den Machthaber Baschar al-Assad, der bis heute einen Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung führt.

Auch der Nato-Partner USA teilt grundsätzlich diese Einstellung. Doch während die Amerikaner darauf setzen, dafür die kurdisch-syrische PYD zu unterstützen, wagt Ankara den militärischen Spagat mit den Russen.


Ankara akzeptiert nun Assad

Der Grund ist einerseits simpel, andererseits macht er die Angelegenheit äußerst kompliziert. Die Türkei sieht die von den USA unterstützte PYD als Terrorgruppe an. In der Tat ist die Verzahnung der PYD-Funktionäre mit der kurdischen Terrororganisation PKK erschreckend eng. Ankara will verhindern, dass sich kurdische Separatisten entlang der türkisch-syrischen Grenze ausbreiten. Eine wachsende kurdische Unabhängigkeitsbewegung in der Region ist für die Türkei ein No-Go – auch das ist ein Grund für die aktuelle Militäroperation, damit die grenznahe Stadt Idlib nicht in die Hände der PYD fallen kann.

Das Ziel der Türkei lautet, Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen zu verhindern, Zivilisten zu unterstützen und Gruppen wie die al-Qaida-nahe Hayat Tahrir al-Sham zu bekämpfen, sagte Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin am Donnerstag dem staatlichen Fernsehsender TRT. Es ist unklar, ob und wo iranische Kräfte an der Operation beteiligt sein werden.

Indem die Türkei sich an der russischen Idlib-Mission beteiligt, „akzeptiert Ankara de facto die Machtübergabe zu Assad“, kommentiert Talha Köse, Analyst der Stiftung für politische und soziologische Forschung in Ankara. Neben der Gefahr, dass wie schon beim ersten Einmarsch türkischer Truppen in Syrien dutzende Soldaten sterben könnten, sei die Angelegenheit auch in anderer Hinsicht riskant: „Die Türkei könnte den Zorn moderater Rebellen spüren, wenn nach dem Kampfeinsatz keine humanitären Hilfen folgen“, meint Köse, „außerdem könnten Iran und Russland Druck ausüben, Milizen auszuschalten“.

Wie es nach der Operation weitergehen wird, ist noch unklar. Sollte Idlib erfolgreich befriedet werden, hätten türkische Truppen den kurdischen PYD-Kanton Afrin faktisch eingekesselt. Schon länger hat Erdogan gedroht, auf eigene Faust in Afrin einzufallen, sollte sich von dort aus eine Bedrohung für die Türkei entwickeln.

Wenn es um die Frage nach weiteren Einsätzen geht, wird Erdogan wieder zum klassischen Schachspieler – bloß nicht zu viel verraten. „Die Türkei wird niemals die Bildung eines Terrorkorridors in Syrien erlauben“, ist das einzige, was der türkische Staatschef zu einer möglichen weiteren Operation zu sagen hat.

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