Dem türkischen Staatschef hätten vor dem Referendum über das von ihm gewünschte Präsidialsystem zwei Ansprachen zu je zehn Minuten im Staatssender TRT zugestanden. Dass Recep Tayyip Erdogan darauf verzichtet hat, wie die Wahlbeobachter der OSZE vermerkten, dürfte Fernsehzuschauern in der Türkei kaum aufgefallen sein: Ohnehin wird jeder einzelne der täglichen Wahlkampfauftritte Erdogans live und in voller Länge von den meisten Sendern übertragen - und dann in den Fernsehnachrichten schier endlos wiederholt.
Wer keinen Fernseher hat, entgeht der präsidialen Wahlwerbung dennoch nicht, sofern er gelegentlich sein Haus verlassen muss. In Istanbul erstrecken sich Transparente mit Erdogans Konterfei an Häuserfronten über mehrere Stockwerke. Darauf wirbt der gütig dreinblickende Staatschef für „Evet“, also für ein Ja bei der Volksabstimmung an diesem Sonntag. Das „Hayir“-Lager der Nein-Sager kontert unter anderem mit kleinen Stickern, die an Laternenpfosten kleben.
Umfragen lassen es auch kurz vor dem Referendum nicht zu, einen Sieger vorherzusagen. Kein Wunder also, dass sich der Präsident - dem die Verfassung eigentlich Neutralität vorschreibt - bis zum Äußersten engagiert. Ein typischer Wahlkampftag besteht aus Auftritten bei mindestens zwei Massenveranstaltungen an verschiedenen Orten, zu denen Anhänger beispielsweise in Istanbul mit eigens dafür zur Verfügung gestellten Bussen und Fähren gekarrt wurden.
Am Abend dann noch ein langes TV-Interview, bei dem Erdogan Fragen von stets sehr wohlmeinenden Journalisten beantwortet. Überhaupt zeigt ein Blick ins türkische Fernsehen recht eindrücklich, wie ungleich der Wahlkampf abläuft. Mit dem Notstandsdekret 687 hat die Regierung der Wahlkommission (YSK) die Möglichkeit genommen, Privatsender zu bestrafen, die Parteien benachteiligen. Wenig erstaunlich, dass das Erdogan und seiner AKP zugute kommt.
Auch das Staatsfernsehen trägt aber kaum zur Chancengleichheit bei, wie nicht zuletzt eine Auswertung zeigt, die die pro-kurdische HDP verbreitete. Das Ergebnis: Zwischen dem 1. und 22. März räumte der staatliche Nachrichtenkanal TRT Haber der Präsidentschaft 1390 Minuten Sendezeit ein, der (nur auf dem Papier noch von Erdogan getrennten) AKP 2723 Minuten.
Zahlen und Fakten zum Referendum in der Türkei
55,3 Millionen Wahlberechtigte sind beim Referendum in der Türkei am 16. April dazu aufgerufen, für oder gegen die Einführung eines Präsidialsystems zu stimmen. Die Wahl findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt - rund 380 000 Sicherheitskräfte sind am Wochenende im Einsatz. Im Ausland - wo zusätzlich 2,9 Millionen wahlberechtigte Türken registriert sind - wurde bereits abgestimmt.
Im Osten der Türkei öffnen die Wahllokale um 7.00 Uhr (Ortszeit/6.00 Uhr MESZ) und schließen um 16.00 Uhr. In anderen Landesteilen kann von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr abgestimmt werden.
Auf der linken Hälfte der Stimmzettel steht „Ja“ auf weißem Hintergrund und auf der anderen „Nein“ auf braunem Hintergrund. Der Wähler entscheidet, indem er einen Stempel mit der Aufschrift „tercih“ („Auswahl“) auf den bevorzugten Teil drückt. Dann steckt er den Stimmzettel in einen Umschlag, der in eine Urne kommt. Eine Frage ist auf dem Stimmzettel nicht vermerkt. Nach dem wochenlangen Wahlkampf dürften die Optionen aber bekannt sein.
Landesweit gibt es gut 167.000 Wahlurnen (Wahllokale haben in der Regel jeweils mehrere Wahlurnen). Vertreter von Regierungs- und Oppositionsparteien dürfen Beobachter an die Urnen entsenden, um die Abstimmung und die Auszählung zu beobachten.
Diese Beobachter müssen das Ergebnis aus der jeweiligen Urne unterzeichnen, bevor die Stimmzettel und das Wahlergebnis zur Wahlkommission des Bezirks gebracht werden. Dort werden die Ergebnisse - wieder unter Beobachtung von Vertretern sowohl der Regierungspartei AKP als auch von Oppositionsparteien - in ein Computersystem eingegeben und zur Wahlkommission nach Ankara übermittelt. In der nationalen Wahlkommission in Ankara sitzen ebenfalls Vertreter der Regierung und der Opposition.
Die versiegelten Wahlurnen werden mit einem eigenen Flugzeug unter Aufsicht nach Ankara gebracht und dort der Wahlkommission übergeben. Am Wahltag werden die Stimmen nach Schließung der Wahllokale ebenfalls unter Beobachtung von Regierungs- und Oppositionsparteien ausgezählt.
Ja, aber nicht viele. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat elf internationale Experten nach Ankara entsandt. Zusätzlich sind seit dem 25. März 24 internationale Langzeitbeobachter der OSZE im Land im Einsatz.
Am Abend des Referendums. Unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale beginnt die Auszählung. Laut Wahlgesetz dürfen Medien bis 21 Uhr keine vorläufigen Ergebnisse veröffentlichen. Die Wahlbehörde kann am Wahltag selbst aber eine frühere Veröffentlichung erlauben. Ein Verstoß wird allerdings nicht geahndet, das heißt, Medien könnten das Veröffentlichungsverbot auch ignorieren.
Prognosen oder Hochrechnungen gibt es nicht, dafür aber Teilergebnisse, die fortlaufend aktualisiert werden. Wann der Ausgang des Referendums feststeht, hängt vor allem davon ab, wie knapp das Resultat ausfällt. Vermutlich dürfte aber am späteren Abend oder spätestens in der Nacht deutlich werden, welche Seite den Sieg für sich verbuchen kann.
Ja. In den Gefängnissen werden nach den Plänen der Wahlkommission insgesamt 461 Wahlurnen stehen. Allerdings sind wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilte Gefangene von der Wahl ausgeschlossen. Die zahlreichen Regierungskritiker in Untersuchungshaft können aber ihre Stimmen abgeben. Gewährleistet ist ebenfalls, dass der inhaftierte „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel wählen kann: In Silivri, wo der deutsch-türkische Journalist in Untersuchungshaft sitzt, werden 33 Wahlurnen aufgestellt.
Die größte Oppositionspartei CHP verbuchte 216 Minuten, die von ihrem Parteichef Devlet Bahceli auf Erdogan-Kurs gezwungene MHP 48 Minuten. Die HDP - die durch die Inhaftierung ihrer Vorsitzenden, mehrerer Abgeordnete und vieler Mitglieder ohnehin kaum noch wahlkampffähig ist - kam auf eine glatte Null. Die HDP kritisiert außerdem „Schikanen“ der Polizei bei ihren Wahlkampfveranstaltungen. Auch die größte Oppositionspartei CHP bemängelt, das „Nein“-Lager werde behindert - bis hin zu tätlichen Übergriffen.
Erdogan und seine Mitstreiter haben Gegner des Präsidialsystems in die Nähe von Terroristen gerückt. Zwar haben sie nicht gesagt, dass jeder, der mit „Nein“ stimmt, ein Terrorist ist. Sie haben aber betont, dass alle „Terroristen“ mit „Nein“ stimmen würden. Mit Terroristen vermeintlich gemeinsame Sache zu machen, das kann besonders im geltenden Ausnahmezustand gefährlich werden. Verdächtige können bis zu 14 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden.
Auch Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht den Wahlkampf durch den Ausnahmezustand eingeschränkt. So habe es der Notstand der Regierung erst ermöglicht, oppositionelle Bürgermeister in 82 mehrheitlich kurdischen Gemeinden durch staatliche Zwangsverwalter zu ersetzen. Gewählte politische Vertreter seien damit genau zu dem Zeitpunkt, als sie sich auf die „Nein“-Kampagne vorbereiten wollten, „aus dem Weg geräumt“ worden.
Außerdem seien im Ausnahmezustand die Versammlungsfreiheit eingeschränkt und mehr als 1400 HDP-Funktionäre inhaftiert worden, sagt Sinclair-Webb. Besonders der inhaftierte HDP-Chef Selahattin Demirtas - der scharfzüngigste Kritiker Erdogans - fehlt dem unkoordinierten „Nein“-Lager schmerzlich.
Die Regierung hatte auch den Gegnern des Präsidialsystems einen fairen Wahlkampf versprochen. „So legitim es ist, „Ja“ zu sagen, so legitim ist es auch, „Nein“ zu sagen“, hatte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ende Januar betont. „Wir garantieren, dass jeder unter gleichen und freien Bedingungen Wahlkampf betreiben kann.“
Ein türkischer Wahlexperte, der nicht namentlich genannt werden möchte, sieht diese Garantie nicht erfüllt. Die „Ja“-Seite missbrauche Staatsressourcen wie beispielsweise Flugzeuge für ihren Wahlkampf. Ihr stünden außerdem große Geldbeträge zur Verfügung, während die Gegenseite so gut wie mittellos sei. Der Experte kommt zu dem Schluss: „Alles an diesem Wahlkampf ist unfair.“