Türkischer Wahlkampf David gegen Goliath

Die türkische Regierung hat einen fairen Wahlkampf versprochen. Die Gegner von Erdogans Präsidialsystem haben daran nie geglaubt. Ein Blick in den Fernseher reicht, um zu sehen, ob der Wahlkampf gerecht verläuft.

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Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Türkisches Parlament 2015. Quelle: dpa
Symbolbild aus Deutschland zur Wahl in der Türkei 2014 Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Justizminister Bekir Bozdağ Quelle: REUTERS

Dem türkischen Staatschef hätten vor dem Referendum über das von ihm gewünschte Präsidialsystem zwei Ansprachen zu je zehn Minuten im Staatssender TRT zugestanden. Dass Recep Tayyip Erdogan darauf verzichtet hat, wie die Wahlbeobachter der OSZE vermerkten, dürfte Fernsehzuschauern in der Türkei kaum aufgefallen sein: Ohnehin wird jeder einzelne der täglichen Wahlkampfauftritte Erdogans live und in voller Länge von den meisten Sendern übertragen - und dann in den Fernsehnachrichten schier endlos wiederholt.

Wer keinen Fernseher hat, entgeht der präsidialen Wahlwerbung dennoch nicht, sofern er gelegentlich sein Haus verlassen muss. In Istanbul erstrecken sich Transparente mit Erdogans Konterfei an Häuserfronten über mehrere Stockwerke. Darauf wirbt der gütig dreinblickende Staatschef für „Evet“, also für ein Ja bei der Volksabstimmung an diesem Sonntag. Das „Hayir“-Lager der Nein-Sager kontert unter anderem mit kleinen Stickern, die an Laternenpfosten kleben.

Umfragen lassen es auch kurz vor dem Referendum nicht zu, einen Sieger vorherzusagen. Kein Wunder also, dass sich der Präsident - dem die Verfassung eigentlich Neutralität vorschreibt - bis zum Äußersten engagiert. Ein typischer Wahlkampftag besteht aus Auftritten bei mindestens zwei Massenveranstaltungen an verschiedenen Orten, zu denen Anhänger beispielsweise in Istanbul mit eigens dafür zur Verfügung gestellten Bussen und Fähren gekarrt wurden.

Am Abend dann noch ein langes TV-Interview, bei dem Erdogan Fragen von stets sehr wohlmeinenden Journalisten beantwortet. Überhaupt zeigt ein Blick ins türkische Fernsehen recht eindrücklich, wie ungleich der Wahlkampf abläuft. Mit dem Notstandsdekret 687 hat die Regierung der Wahlkommission (YSK) die Möglichkeit genommen, Privatsender zu bestrafen, die Parteien benachteiligen. Wenig erstaunlich, dass das Erdogan und seiner AKP zugute kommt.

Auch das Staatsfernsehen trägt aber kaum zur Chancengleichheit bei, wie nicht zuletzt eine Auswertung zeigt, die die pro-kurdische HDP verbreitete. Das Ergebnis: Zwischen dem 1. und 22. März räumte der staatliche Nachrichtenkanal TRT Haber der Präsidentschaft 1390 Minuten Sendezeit ein, der (nur auf dem Papier noch von Erdogan getrennten) AKP 2723 Minuten.

Zahlen und Fakten zum Referendum in der Türkei

Die größte Oppositionspartei CHP verbuchte 216 Minuten, die von ihrem Parteichef Devlet Bahceli auf Erdogan-Kurs gezwungene MHP 48 Minuten. Die HDP - die durch die Inhaftierung ihrer Vorsitzenden, mehrerer Abgeordnete und vieler Mitglieder ohnehin kaum noch wahlkampffähig ist - kam auf eine glatte Null. Die HDP kritisiert außerdem „Schikanen“ der Polizei bei ihren Wahlkampfveranstaltungen. Auch die größte Oppositionspartei CHP bemängelt, das „Nein“-Lager werde behindert - bis hin zu tätlichen Übergriffen.

Erdogan und seine Mitstreiter haben Gegner des Präsidialsystems in die Nähe von Terroristen gerückt. Zwar haben sie nicht gesagt, dass jeder, der mit „Nein“ stimmt, ein Terrorist ist. Sie haben aber betont, dass alle „Terroristen“ mit „Nein“ stimmen würden. Mit Terroristen vermeintlich gemeinsame Sache zu machen, das kann besonders im geltenden Ausnahmezustand gefährlich werden. Verdächtige können bis zu 14 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden.

Auch Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht den Wahlkampf durch den Ausnahmezustand eingeschränkt. So habe es der Notstand der Regierung erst ermöglicht, oppositionelle Bürgermeister in 82 mehrheitlich kurdischen Gemeinden durch staatliche Zwangsverwalter zu ersetzen. Gewählte politische Vertreter seien damit genau zu dem Zeitpunkt, als sie sich auf die „Nein“-Kampagne vorbereiten wollten, „aus dem Weg geräumt“ worden.

Außerdem seien im Ausnahmezustand die Versammlungsfreiheit eingeschränkt und mehr als 1400 HDP-Funktionäre inhaftiert worden, sagt Sinclair-Webb. Besonders der inhaftierte HDP-Chef Selahattin Demirtas - der scharfzüngigste Kritiker Erdogans - fehlt dem unkoordinierten „Nein“-Lager schmerzlich.

Die Regierung hatte auch den Gegnern des Präsidialsystems einen fairen Wahlkampf versprochen. „So legitim es ist, „Ja“ zu sagen, so legitim ist es auch, „Nein“ zu sagen“, hatte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ende Januar betont. „Wir garantieren, dass jeder unter gleichen und freien Bedingungen Wahlkampf betreiben kann.“

Ein türkischer Wahlexperte, der nicht namentlich genannt werden möchte, sieht diese Garantie nicht erfüllt. Die „Ja“-Seite missbrauche Staatsressourcen wie beispielsweise Flugzeuge für ihren Wahlkampf. Ihr stünden außerdem große Geldbeträge zur Verfügung, während die Gegenseite so gut wie mittellos sei. Der Experte kommt zu dem Schluss: „Alles an diesem Wahlkampf ist unfair.“

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