U-Haft für Menschenrechtler in der Türkei Die nächste Eskalationsstufe

Ein Gericht in Istanbul hat U-Haft gegen einen deutschen und fünf weitere Menschenrechtler verhängt. Es bestehe der Verdacht auf die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dahinter steckt ein System – mit unabsehbaren Folgen.

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Nachdem jetzt sogar sechs Menschenrechtler inhaftiert worden sind, spitzt sich die Lage für Aktivisten, Journalisten und Regimegegner in der Türkei zu. Quelle: dpa

Istanbul Peter Steudtner hatte mit der Türkei nie viel zu tun. Der 46-jährige Referent für Menschenrechte beschäftigte sich stattdessen unter anderem zwei Jahre mit der Reintegration von Kindersoldaten in Mosambik. Anfang Juli leitete er einen Workshop für Menschenrechtler in Istanbul. Am vierten Tag werden er und neun weitere Teilnehmer von der Polizei festgenommen. An diesem Dienstag eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen sie. Der Vorwurf: Verdacht auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

Seit dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr geht die türkische Justiz massiv gegen mutmaßliche Putschisten und Aktivisten vor. Mehr als 50 000 Menschen sitzen inzwischen in Untersuchungshaft, die bis zu fünf Jahre dauern kann. Über 170 Journalisten sitzen ebenfalls im Gefängnis, darunter der deutsch-türkische „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel. Auch die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu ist in U-Haft. Dass nun gleich sechs Menschenrechtler bis zu einem Prozess hinter Gitter sollen, markiert eine neue Stufe im Vorgehen gegen mutmaßliche Staatsfeinde. „Wir haben eine neue Schwelle überschritten“, sagt Andrew Gardner, Türkei-Experte bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Die Säuberungswellen nach dem Umsturzversuch hätten viele Kräfte in der Zivilgesellschaft, kritische Journalisten und Oppositionelle getroffen. „Aber dies ist ein Angriff auf das Rückgrat der Menschenrechte“, warnt Gardner.

Die Lebensgefährtin des in der Türkei inhaftierten deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner hat die gegen ihn erhobenen Terrorvorwürfe scharf zurückgewiesen. „Diese Unterstellungen sind total absurd“, sagte Steudtners Partnerin Magdalena Freudenschuss am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. „Sie sind fast das Gegenteil dessen, wofür Peter und Ali und die anderen Menschenrechtsverteidiger mit ihrer Arbeit stehen: Für Gewaltfreiheit, für den Einsatz von Menschenrechten.“

Der 45-jährige Berliner war zusammen mit seinem schwedischen Kollegen Ali Gharavi und acht weiteren türkischen Menschenrechtlern bei einem Workshop in Istanbul festgenommen worden. Darunter war auch die Landesdirektorin von Amnesty International, Idil Eser. Am Dienstag verhängte ein Richter Untersuchungshaft gegen sechs der zehn Beschuldigten, denen Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen wird. Unter den Inhaftierten sind Steudtner, Gharavi und Eser. Die beiden Ausländer waren Referenten bei dem Workshop. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden einige der Festgenommenen wegen des Verdachts der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ verhört.

Türkische Medien berichteten, die Staatsanwaltschaft habe im Haftantrag Mitschnitte von Gesprächen mit anderen Verdächtigen vorgelegt, die Verbindungen zu kurdischen und linken Gruppen haben sollen. Es soll aber auch Verbindungen zum in den USA lebenden Geistlichen Fethullah Gülen geben.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte vage Andeutungen gemacht: Demnach soll die Gruppe an einem Treffen teilgenommen haben, bei dem eine Fortsetzung des gescheiterten Putschversuchs vor einem Jahr befürwortet worden sein soll. Erdogan betrachtet Gülen als Drahtzieher des Staatsstreichs.


Ankara fühlt sich immer weniger an Abkommen mit dem Westen gebunden

Viele international geltende Abkommen, wie die Charta der Menschenrechte, sind zwar von nahezu allen Ländern der Welt unterzeichnet worden – auch von der Türkei. Doch die Regierung in Ankara sieht sich immer weniger an Abkommen, Absprachen und üblichen Handlungsweisen mit dem Westen gebunden. Die AKP-Regierung will das Land loslösen von Europa und den USA – wirtschaftlich, politisch und auch gesellschaftlich.

Das zeigt sich auch an der Rhetorik von Staatspräsident Tayyip Erdogan und seiner Regierung. Nachdem ihm und einem Teil seiner Minister im März ein Auftrittsverbot erteilt worden war, unterstellte er der Bundesregierung, Nazi-Methoden anzuwenden. Auf einer Rede zum Gedenken an den Putschversuch vor einem Jahr erklärte Erdogan, er werde die Todesstrafe wiedereinführen, sofern das Parlament dafür stimme. Und das, obwohl die Türkei sich als Mitglied des Europarats und als EU-Aspirant direkt und indirekt dazu verpflichtet hat, die Todesstrafe abzuschaffen beziehungsweise nicht erneut einzuführen.

Diese Rhetorik ist keine Affekthandlung, keinem spontanen Verbalausraster Erdogans geschuldet. Das hat System: Der Westen soll einknicken vor der Türkei und das Land als ebenbürtigen Partner anerkennen. Was grundsätzlich ein legitimer Wunsch ist, irritiert jedoch viele im Westen ob der Methoden, die dazu angewandt werden.

Die Folgen können radikal ausfallen: Schon jetzt überträgt sich der politische Zwist auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Türkeistämmige in Deutschland fühlen sich mehr und mehr gezwungen, sich für oder gegen die Regierung zu positionieren. Millionen deutsche Türkeiurlauber meiden wiederum inzwischen das beliebte Urlaubsland am Mittelmeer. Allerdings nicht aus Angst vor Terror, sondern aus politischen Gründen.

Gleichzeitig gehen die türkischen Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich gegen jeden vor, bei dem sie eine Verbindung zu mutmaßlichen Putschisten oder Terrorgruppen wie der PKK oder auch dem IS erkennen. Regelmäßig kommt es daher zu Razzien und Festnahmen. Auch wenn im Nachgang dieser Untersuchungen oft zahlreiche Menschen festgenommen werden, wird oftmals auch ein kleiner Teil wieder freigelassen. Im aktuellen Fall sind ebenfalls vier Menschenrechtler auf freien Fuß gesetzt worden. Sie dürfen allerdings bis zu einer finalen Gerichtsentscheidung das Land nicht verlassen und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden. Der Inhaftierte Steudtner ist unterdessen der zehnte Deutsche in türkischer U-Haft – ein Rekordwert.

Familienangehörige, Freunde und Kollegen haben die sofortige Freilassung des deutschen Menschenrechtlers und der Mitinhaftierten in der Türkei gefordert. Es sei schockierend, dass das gewaltfreie Engagement Steudtners dazu geführt habe, dass des 45-Jährige nun im Gefängnis sei, hieß es in einer am Dienstag verbreiteten Mitteilung von Unterstützern des Deutschen. Der Sprecher der Angehörigen in Deutschland, der Menschenrechtsberater Daniel Ó Cluanaigh, teilte mit: „Es ist abwegig, ihm die Unterstützung einer bewaffneten Terrorgruppe zu unterstellen.“

Die Lebensgefährtin des deutschen Inhaftierten sagte: „Peter und sein Kollege machen natürlich vor Trainings immer auch eine Risikoanalyse. Aber die war in diesem Fall so, dass sie das so eingeschätzt haben, dass es in Ordnung ist zu fahren und dieses Seminar zu geben. Zumal die Inhalte ja in keiner Weise politisch waren.“ Bei dem Workshop sei es um IT-Management und Datensicherheit gegangen. „Sie haben außerdem in diesem Training Einheiten zu Stress und Trauma gemacht.“ Dabei seien zum Beispiel Entspannungsübungen in Belastungssituationen behandelt worden.

Sie fügte hinzu, sie hoffe, dass es der Bundesregierung gelinge, „auf diplomatischem Weg die Freilassung dieser Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen und auch Peters zu erreichen“. Die Inhaftierung sei eine schwere Belastung für die Familie, der auch zwei Kinder angehören.

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