Ukraine-Konflikt aus Putins Sicht Der Westen ist schuld!

Die Krim-Annexion? Vergleichbar mit der deutschen Wiedervereinigung. Die Maidan-Proteste? Vom Westen inszeniert: Viele Russen haben eine komplett andere Sicht auf die Ereignisse in der Ukraine. Das hat drastische Folgen.

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Die Zwei Gesichter des Wladimir Putin: Im Westen ein Aggressor, in Russland ein Held. Quelle: dpa

Moskau Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte vor einigen Wochen die Idee, dass Historiker aus Russland und Deutschland ein gemeinsames Geschichtsbuch schreiben sollten. Das würde „einen Beitrag dazu leisten, Vergangenheit aus verschiedenen Sichten zu vermitteln und wahrzunehmen“, sagte Schröder.

Sollte dieses Projekt Wirklichkeit werden, dürfte das Kapitel „Die Ereignisse in der Ukraine 2014“ für große Kontroversen sorgen. Denn die russische Sicht auf die Ereignisse in der Ukraine könnte unterschiedlicher nicht sein im Vergleich zu der Geschichte, die die meisten westlichen Politiker und Medien erzählen.

Die russische Version in Kürze: Die Proteste auf dem Maidan? Keine ukrainische Demokratiebewegung, sondern ein vom Westen provozierter, faschistischer Sturz der Regierung. Die Krim? Keine Annexion durch einen Völkerrechtsbruch, sondern ein demokratischer Prozess. Der Abschuss des Passagierflugs MH17? Nicht die pro-prussischen Separatisten, Schuld daran tragen die ukrainische Regierung und die USA. Der Krieg in der Ostukraine? Keine Aggression Putins, sondern ein Völkermord des ukrainischen Militärs an Russen.

Wer hierzulande diese Schlüsselereignisse des Ukrainekonflikts so interpretiert, wird schnell in die Ecke der „Verschwörungstheoretiker“ gedrängt oder als „Putin-Versteher“ verspottet. In Russland dagegen sind solche Meinungen in weiten Teilen der Bevölkerung das, was wir in Deutschland „alternativlos“ nennen.

Das betrifft vor allem die sogenannte „Krimfrage“. Neulich auf einer Podiumsdiskussion zwischen deutschen und russischen Wirtschaftsvertretern: Ein leicht untersetzter Russe im Anzug lässt sich das Mikrofon bringen, steht auf und stellt sich als Chef einer großen Gewerkschaft vor. Dann setzt er an: „Warum diskutieren wir hier überhaupt, ob die Krim russisch bleiben soll oder nicht? Die Rückkehr der Krim ist für uns doch genauso selbstverständlich wie die Wiedervereinigung Deutschlands 1990!“ Ein leises Raunen geht durch den Saal. Allerdings nur unter den deutschen Zuhörern. Die russischen Anwesenden applaudieren.

Das russische Levada-Center sorgt mit seinen repräsentativen Umfragen dafür, dass solche subjektiven Eindrücke faktisch untermauert werden. 79 Prozent aller Russen fordern, dass die Krim russisch bleiben muss, fand Russlands renommiertestes Meinungsforschungsinstitut heraus. Beim Kurznachrichtendienst Twitter hat diese Devise auch schon längst seinen eigenen Hashtag: #кримнаш, was so viel bedeutet wie: Die Krim gehört uns.

Tatsächlich scheint es in Russland gar keine „Krimfrage“ zu geben, sondern nur klare Antworten, die ich immer wieder in Gesprächen mit Russen bekomme: „Es war ein demokratischer Prozess“, sagt Ira, eine 22-jährige Studentin aus Jekaterinburg. „Hier spricht keiner von einer Annexion“, erklärt Alexander. „Wir nennen es die Rückkehr.“


„Lettland ist uns völlig egal“

Der Mittfünfziger ist Manager in einem Unternehmen der Regierung und gerät ins Schwärmen, wenn er über die Krim spricht. „Ich habe dort so viele Sommerurlaube verbracht, hatte am Schwarzmeerstrand meinen ersten Sex.“. Doch die Krim sei für ihn mehr als melancholische Erinnerungen an seine Jugend, sagt er. „Sie ist ein Teil meines Herzens.“

Nun wäre es einfach zu sagen, allein die Propaganda der russischen Medien würden solche Emotionen auslösen. Schließlich sind die Nachrichten auf dem beliebtesten russischen Fernsehkanal, dem staatlichen Sender „Perwy Kanal“ (Erster Kanal), seit Anfang des Jahres voll mit Bildern aus der Ukraine, die eine Unterdrückung der russischstämmigen Bevölkerung durch ukrainische „Faschisten“ zeigen. 94 Prozent aller Russen beziehen ihre Informationen aus dem Fernsehen.

Doch Alexander, der Krim-Liebhaber, liest nur Online-Nachrichten. Im russischen Fernsehen laufe Propaganda, deren Ideologie auf Lenin zurückgehe, sagt er. Die Methode sei einfach: Nur solche Informationen verbreiten, die der Regierung nützen. Und das auf einem Niveau, „das sich dem dümmsten Zuschauer anpasst“. Bis sich die Leute bei jeder Meinungsbildung die Frage stellten: Bin ich für oder gegen Russland?

Er sei dafür jedoch nicht anfällig, betont Alexander, „ich bin nicht das langsamste Kamel in der Herde“. Stattdessen bewertet er Putins Entscheidung rational: Kein russischer Präsident könne sich länger als eine Stunde an der Macht halten, wenn er die Krim wieder aus der Hand geben würde. Die Leute hätten sehnsüchtig darauf gewartet, und zwar nur auf die Krim. „Lettland oder die anderen Länder, die jetzt Angst haben, sind uns völlig egal“, sagt er. Und Putins Vision von einem „Neurussland“ in der Ostukraine? Rein taktische Gründe, um den Druck gegenüber dem Westen hochzuhalten, meint Alexander. Und winkt ab.

Dass einige Russen die Ostukraine nicht ganz so gelassen sehen, zeigt sich auf einem Stand der Partei „Anderes Russland“ in der Moskauer Innenstadt. Die Partei ist ein Bündnis mehrerer Oppositionsparteien und wurde 2006 unter dem Vorsitz des ehemaligen Schachweltmeisters Garri Kasparow gegründet. Ursprünglich aus Protest gegen Putins Politik. Das Parteisymbol am Stand ist eine Granate auf roter Flagge. Junge Männer in Armeejacken sammeln Spenden für „unsere Jungs im Donbass“, der umkämpften Region um Donezk und Lugansk.

Dort stehen sich seit Monaten ukrainische Regierungstruppen und pro-russische Separatisten gegenüber. „Nein, das ist nicht wahr“, ruft eine kleine Frau, die sich als Svetlana vorstellt. „Das hier ist wahr!“ Sie zeigt auf ein Flugblatt der Partei, das die Überschrift „Russischer Frühling“ trägt. Ob ich als deutscher Journalist denn nichts davon wüsste, dass die westlichen Mächte ukrainische Faschisten unterstützen würden, um unschuldige russische Bürger in der Ukraine zu bekämpfen? Erst auf dem Maidan, jetzt in der Ostukraine. „Dort findet ein Völkermord statt!“

Passend dazu zeigt der russische Fernsehsender 1TV Bilder von Greueltaten und Nazi-Aufmärschen in der Ukraine. Das Feindbild Faschismus tritt in den Abendnachrichten auf, jeden Tag. Die Bilder sind brutal, als Quelle dient häufig Youtube.


„Die Amerikaner wollen die Ukraine destabilisieren“

Im August wurde berichtet, dass die ukrainische Armee ein dreijähriges Kind in der ostukrainischen Stadt Slawjansk gekreuzigt hätten. Der Bericht wurde später als Lüge enttarnt. Am Donnerstag haben russische Intellektuelle deswegen Konstantin Ernst, den Chef von 1TV, in einem offenen Brief aufgefordert, die Propaganda zu beenden. „Die Journalisten tragen die Verantwortung für das Blutvergießen russischer Bürger in unserem einst verbrüderten Staat Ukraine“, lautet die Anklage. Junge Russen würde die Propaganda verstören und dazu ermuntern, „freiwillig“ in den Krieg zu ziehen. Viele von ihnen seien getötet und verstümmelt worden. Bisher mussten mehr als 3700 Menschen im Krieg in der Ostukraine ihr Leben lassen.

Alexander glaubt diese „Propaganda-Geschichten“ nicht, er hat seine eigene Vorstellung davon, wie es in der Ukraine gelaufen ist. „Die USA haben ukrainische Militärs in Lagern professionell trainiert, um auf dem Maidan zu protestieren und den Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch zu stürzen“, sagt er. „Das weiß jeder, mit dem ich rede.“

Und erst der mysteriöse Abschuss des Passagierflugzeuges MH17: Weder die prorussischen Separatisten, noch die Russen selbst profitierten davon. „Aber die ukrainische Armee, die zu diesem Zeitpunkt ziemlich unter Druck stand, konnte das Unglück gut gebrauchen.“ Selbst wenn es ein Missgeschick war – es sei im Interesse der Ukraine geschehen.

Als die Meinungsforscher vom Levada-Zentrum im September eine repräsentative Stichprobe aus dem russischen Volk dazu befragten, antworteten nur fünf Prozent, dass entweder Russland oder die Separatisten Schuld an dem Tod der Passagiere hätten. Jeder Fünfte glaubt, die USA seien die Hauptverantwortlichen. Gleichzeitig beschreiben 72 Prozent der Russen die aktuellen Beziehungen zu Amerika als „angespannt“ oder „feindlich“.

Das ruft Erinnerungen an den Kalten Krieg hervor, als die USA der Staatsfeind Nummer eins für die sowjetische Regierung war. Nikolai Patruschew, Ex-Chef des russischen Geheimdienstes FSB und jetzt Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, trifft diesen Nerv in einem vor kurzem erschienen Interview mit der Kremlzeitung „Rossiskaja Gazeta“.

Dort sagt Patruschew, der einer der mächtigsten Männer neben Putin ist: „Die Ukrainekrise ist das Ergebnis der systematischen Bemühungen des Westens, die Ukraine von Russland zu trennen.“ Alexander kleidet diese Denke in drastischere Worte: „Die Amerikaner wollen die Ukraine destabilisieren, um Russland zu schwächen. Schließlich sind wir das einzige Land auf der Welt, das Amerika militärisch zerstören könnte!“

Zum Abschluss frage ich ihn, ob denn das russische Volk bei allen Emotionen über die Rückkehr der Krim nicht spüren würde, dass die heimische Wirtschaft unter den Folgen von Putins Entscheidung leidet. Denn nicht zuletzt wegen der westlichen Wirtschaftssanktionen liegt die Inflation bei acht Prozent. Und die Preise für bisher aus dem Westen importierte Lebensmittel, dessen Einfuhr Putin gestoppt hat, sind teils 17 Prozent höher als noch vor einem Jahr.

Die Reallöhne dagegen sinken. Doch Alexander sagt, das wäre zu rational gedacht: „Wir Russen sind bereit, viele Dinge zu verlieren, ja sogar zu leiden. Denn wir haben eine Erklärung dafür. Und so lange wir die Krim wiederhaben, ist alles gut.“

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