Irgendwann Ende Juni stürmten Kämpfer in Wanderschuhen und Uniformteilen diverser Designs in das beste Krankenhaus von Donezk – die Kalaschnikows vor den Hüften. Dmitri Prjadun hatte mit ihnen gerechnet, er blieb ruhig. Zum Glück wollten sie bloß einen Krankenwagen „borgen“. Einer der Soldaten händigte dem Finanzchef der Privatklinik ein Stück Papier aus, den „Akt über die vorübergehende Nutzung“, und Prjadun wusste sofort, den nagelneuen VW-Rettungswagen würde er nie wiedersehen. „Später haben sie uns ein zweites Auto aus der Werkstatt geklaut“, erzählt er.
Ach, was soll’s! Nun hat die Klinik eben nur noch zwei Fahrzeuge. Die Leute in Donezk, sagt der mit Galgenhumor gesegnete Klinikmanager, können sich Notarzteinsätze sowieso nicht mehr leisten. Seit Mai schon tobt der Krieg zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und der ukrainischen Armee; der im September in Minsk vereinbarte Waffenstillstand ist eine Farce.
Was ist „Neurussland“?
In der Ostukraine haben prorussische Separatisten im Mai ihre „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu „Neurussland“ vereinigt. Auch Russlands Präsident Putin verwendete mehrfach diese Bezeichnung. Sie hat einen historischen Ursprung.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein Militärbezirk nördlich des Schwarzen Meeres so genannt. Neurussland reichte damals von Bessarabien (heute die Republik Moldau) bis zum Asowschen Meer. Zentrum war Krementschuk, etwa 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Zur Zeit der Feldzüge gegen die Türken und das Krim-Khanat sollte die Ansiedlung russischer und ukrainischer Bauern sowie ausländischer Siedler das Grenzgebiet stabilisieren.
1764 bildete Zarin Katharina die Große das „Neurussische Gouvernement“. Nach der Eroberung der Krim verlor Neurussland seine strategische Bedeutung und wurde rund 20 Jahre nach der Gründung wieder aufgelöst. Zar Paul I. bildete 1796 erneut ein kurzlebiges Verwaltungsgebiet Neurussland um den Hauptort Noworossisk, dem heutigen Dnjepropetrowsk.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ein russisches „Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien“ geschaffen. Von 1818 bis etwa 1880 wurden wieder ausländische Siedler angeworben. Auch aus deutschsprachigen Gebieten kamen viele Menschen in die Steppen Neurusslands. Die Dörfer dieser „Schwarzmeerdeutschen“ existierten bis zu den Deportationen in der Stalin-Zeit.
Prjadun ist froh, dass die Söldner des Möchtegernstaats „DNR“ nur zeitweise Gäste auf seinen blitzblanken Klinikfluren sind: „Sie haben verstanden, dass wir in Donezk die Einzigen sind, die diese Apparaturen bedienen können“, so Prjadun, dessen Ärzte zur Fußball-EM 2012 die Nationalteams behandelt hatten. Nun kommen die müffelnden und zerzausten Krieger ab und an zum Röntgen – das geht aufs Haus, versteht sich.
Die ärmeren Ukrainer flüchten nach Russland
Von der Wirtschaft ist wenig übrig geblieben im ostukrainischen Gebiet Donbass, wo einst das industrielle Herz der Ukraine schlug. In der Innenstadt von Donezk sind viele Geschäfte mit Brettern vernagelt, Bankautomaten spucken seit Monaten kein Geld mehr aus. Mehr als die Hälfte der Einwohner ist vor dem Krieg aus der Stadt geflohen. Unternehmer haben sich meist in friedliche Gebiete der Ukraine gerettet, wo ihr Rechtssystem gilt und Handel mit Europa möglich ist. Die ärmeren flüchteten ins vermeintlich sorgenfreie Russland.
Mit Unbehagen beobachtet dieser produktivere Teil der Gesellschaft, wie die Kiewer Führung und Kremlchef Wladimir Putin ohne Not einen Keil zwischen die Ostukrainer getrieben haben. Und dass wie zuletzt vergangene Woche sogar geduldige Vermittler wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an Putins Kompromisslosigkeit verzweifeln. Die ärmeren Ostukrainer vertrauen hingegen dem russischen Präsidenten – und verstecken sich im vermeintlich selig machenden Russland. Wobei die dortige Regierung die Flüchtlinge nun – wie einst Stalin – in Sibirien ansiedeln will.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Daheim in Donezk ist unterdessen eingetreten, was viele befürchtet hatten: Mit den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk sind zwei De-facto-Staaten entstanden, die kürzlich sogar ihre Staatspräsidenten wählen durften und hoffnungslos am Tropf Moskaus dahinsiechen. Aus ukrainischer Sicht brechen damit bis zu 17 Prozent der Wirtschaftsleistung weg, was das Land auf dem Weg nach Europa schwächen und instabil halten wird. War es etwa das, was Kremlchef Putin erreichen wollte? Das glauben viele Beobachter im Westen. Aber auch im Osten muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Betriebe in der Region größtenteils stillstehen, die Industrieproduktion um mehr als die Hälfte gegenüber dem Vorjahr gesunken ist.
Donezk hängt an Moskaus Tropf
„Es ist völlig unvorstellbar, dass die Ostukraine in absehbarer Zeit zurück unter Kiewer Kontrolle gerät“, sagt Ökonom Vasily Astrov vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Auf Jahre hinaus werde das russische Staatsbudget die Hauptquelle für den besetzten Osten der Ukraine sein – erst recht, wenn die Separatisten ihren Traum von einer weiteren Eroberung jenes Landes wahr machen, das sie als „Neu-Russland“ bezeichnen. Die Schäden wären nicht nur für die Ukraine enorm, sondern auch für die Russen: Je größer der Pseudostaat, den der Kreml durchpäppeln muss, desto mehr Geld fehlt im Putin-Reich, das unter dem niedrigen Ölpreis mehr als unter den Sanktionen leidet.
Vier Monate ohne Lohn
Oder schafft es die „Volksrepublik“ am Ende doch, die Region zu neuem Wachstum zu führen? Immerhin ist mit Bergbauelektriker Alexander Sachartschenko seit Kurzem ein Ministerpräsident im Amt. Einer, der zwar wie viele seiner Mitarbeiter am liebsten Tarnkleidung trägt, aber immerhin ein Finanz- und Wirtschaftsministerium eingerichtet hat. Die Pressefrau seufzt, als man sie nach dem Experten fragt, der den Plan für die ökonomische Entwicklung hat. „Da muss ich mal nachdenken.“ Zwei Tage und rund 30 unbeantwortete Telefonate später sagt dann der Assistent eines Ministers für Steuern und Einnahmen, „der Herr Minister“ hetze „ständig von Meeting zu Meeting“ und werde absehbar keine Zeit für ein Gespräch mit der Presse finden.
Schon eher hängt die Sprachlosigkeit damit zusammen, dass es keinen Plan gibt für den Wiederaufbau des früher einmal so reichen Donbass. Das liegt nicht nur im Unvermögen der neuen Herren begründet: Lieferketten sind unterbrochen, weil rund um Donezk und Lugansk viele Straßen und Schienen zerstört sind.
Krisenländer von Russland bis Nordafrika
Libysche Warlords spalten ihr Land, und am Nil bekämpfen sich Armee und islamistische Terroristen.
Krieg zu führen ist für alle Beteiligten irrational, aber für einen Frieden ist das gegenseitige Misstrauen viel zu stark.
Falsche Freunde in der Nachbarschaft werden zur Gefahr.
Wirtschaftliche Entwicklung ist dringend nötig - stattdessen lebt das Land im Krieg.
Deutschlands wichtiger Wirtschaftspartner verliert seine Glaubwürdigkeit.
Die USA ziehen ab, Taliban und al-Qaida bleiben.
Zwei Staaten drohen unter dem Ansturm radikaler islamischer Terroristen endgültig zu zerbrechen.
Die Atomverhandlungen stocken, die Außenpolitik bleibt aggressiv wie immer.
Der superreiche Zwerg sponsert den Islamismus weltweit.
Vorprodukte wie Sprengstoff für den Bergbau oder Alteisen für die Metallfabriken bezieht der Donbass traditionell günstig aus der Ukraine, nur liefern die Händler kaum mehr. Seit der Osten zum Kriegsgebiet wurde, bestellen sogar die den Separatisten gewogenen russischen Abnehmer aus Furcht vor Lieferausfällen keine Maschinen mehr. Es wird Jahre dauern, bis allein die Kriegsschäden beseitigt sind, die der ukrainische Industrieverband vorsichtig auf acht Milliarden Dollar schätzt.
Hoffen auf die neue Regierung
„Ich habe vier Monate keinen Lohn bekommen“, beklagt sich eine ältere Dame in grüner Arbeitsmontur, die im Stadtpark unweit des Regierungssitzes das Laub zusammenrecht. Ihren Job will sie nicht aufgeben. „Irgendeiner muss ja hier für Ordnung sorgen.“ Außerdem kehre bald Stabilität zurück, die „DNR“ habe ja nun eine richtige Regierung.
Das glaubt auch Rentnerin Marina Andrejewna, die als Witwe eines russischen Soldaten zu den Privilegierten zählt, denen die chronisch klamme „Volksrepublik“ bisher pünktlich eine Rente von knapp 50 Euro auszahlt. „Ich erwarte, dass wir in der ,DNR’ eine Zukunft haben“, sagt die alte Dame, und ihre Goldzähne blitzen zuversichtlich auf, „Russland wird uns dabei helfen.“ So leidensfähig und zuversichtlich die Leute im Donbass sein mögen – die Separatisten stehen in der Pflicht, ihnen eine ökonomische Zukunft zu bescheren.
Die Industrie ist fast zum Stillstand gekommen
Wer Donezk ein wenig kennt, kann den wahrhaftigen Stillstand am Himmel sehen. Kein halbes Jahr ist es her, dass die Schwerindustrie ihren giftigen Qualm in die Wolken blies – jetzt wirken deren rot-weiße Schlote wie Industriedenkmäler im Ruhrpott. Nur ein paar Heizkraftwerke laufen, Gott weiß, wo sie den Brennstoff auftreiben. Bei Donezkstal, einem von Russen geführten Metallkonzern im Stadtzentrum, halten an diesem Nachmittag nur die Empfangsdame und ein Wachmann die Stellung. Das Management, heißt es, verlasse momentan mittags das Büro, die Fabrik stehe ja sowieso zum größten Teil still, die Arbeiter seien im „unbezahlten Urlaub“. Kaum mehr geschäftig wirken Betriebe des Oligarchen Rinat Achmetow, der früher als „König des Donbass“ die Politik vor Ort wie in Kiew beherrschte – nur seine Koksfabrik beliefert noch das Stahlwerk des Oligarchen im von Kiew kontrollierten Mariupol.
Achmetow spielt ein doppeltes Spiel, der Verlust der Aktiva im Donbass ist der Einsatz. Einerseits sagt man ihm nach, er habe die Separatisten anfangs finanziell unterstützt, um Druck auf die Regierung in Kiew auszuüben, die sich im Februar an die Macht geputscht hatte. Als die Rebellen zu mächtig wurden und den Anschluss an Russland vorantrieben, hat er dann seine Arbeiter in Mariupol als Bürgerwehr gegen diese auf die Straße geschickt. Für den Ukrainer wäre eine Zukunft in Russland ein Graus, denn er würde die EU-Märkte verlieren und müsste sich mit vom Kreml bemutterten russischen Oligarchen messen.
Der Einfluss des Oligarchen Achmetow
Jetzt weigert er sich, seine Unternehmen im Donbass der Herrschaft der Separatisten zu unterstellen, weshalb diese wiederum mit Zwangsverstaatlichung drohen. Beobachter sind sich sicher, dass der nun in Kiew residierende Krösus Schutzgelder an die „DNR“ entrichtet – „anders lässt sich nicht erklären, wieso die Rebellen seine Immobilien und Unternehmen nicht anrühren“, sagt einer, der ihn kennt.
Tatsächlich ist die unsichtbare Hand von Achmetow überall zu spüren. In der Straße des Friedens drängen sich Menschen vor einem schlichten Bürobau. Der Oligarch gibt hier wie auch im Fanshop seines Fußballclubs Schachtjor Hilfsgüter aus. Zweimal im Monat erhalten die gänzlich Mittellosen ihre Rationen in Plastiktüten – Milch, Mehl, Mais, alles, was sich halbwegs hält. „Brot müssen sie selber backen“, sagt Valentina, eine Frau von Anfang 40, die in der orangenen Jacke des Fußballvereins Lebensmittel verteilt. Die arbeitslose Buchhalterin hofft, dass die Leute bald ihre Renten wieder bekommen und sich alles selbst kaufen können. „Wir glauben an unsere neue Regierung, alles wird gut.“ Aber erst müsse der Krieg aufhören.
Bürger leben jeden Tag in Todesangst
An diesem Vormittag geht er erst mal wieder los. Gar nicht weit weg schießt jemand Granaten Richtung Flughafen, die dumpfen Schläge sind selbst im Gebäude zu hören, wo Achmetow Lebensmittel verteilen lässt. Niemand zuckt mehr zusammen, an den Sound des Krieges haben sie sich gewöhnt. Als die Kämpfe begannen, saß Valentina mit ihrer Familie auf gepackten Koffern. „Aber dann haben wir uns gefragt, wohin wir flüchten sollen. Wir sind doch hier zu Hause!“ Ihre Schwester lebe in Poltawa im friedlichen Nordosten der Ukraine. „Die halten uns dort für ihre Feinde, obwohl wir jeden Tag in Todesangst leben“, klagt sie.
Nur einmal schweigen die Granaten in diesen Tagen. Es ist jener Sonntag, an dem gewählt wird. Neben dem Lenin-Denkmal haben sie eine Bühne aufgebaut, davor vielleicht 300 Menschen, die eifrig mit Papierfähnchen in den „DNR“-Farben wedeln. Eine Volkstanz-Gruppe aus Kasachstan hat ihren Auftritt, anschließend tanzen die Besucher bei Temperaturen um den Gefrierpunkt zu russischen Folkloreliedern. Für einen Moment ist der Krieg vergessen, eine abtrünnige Provinz feiert sich selbst – so als wäre der Niedergang weit weg. Auf dem Banner über der Bühne steht in breiten Lettern: „Die Zukunft beginnt heute.“
Janukowitsch war zumindest „ihr“ Präsident
Für die Ukraine, diese These sei gewagt, ist der Donbass verloren. Das ist zum Teil Folge der Bombardierung – durch „ukrainische Truppen“, wie die Bevölkerung überzeugt ist. Die mögen zwar selten sein und häufig den Beschuss der Separatisten aus ihren Stellungen in Wohngebieten beantworten. Aber so weit differenzieren die Menschen nicht, zumal die Deutungshoheit über den Krieg bei antiukrainischen russischen Staatssendern liegt. Aber selbst ohne Krieg und Propaganda wird die Regierung in Kiew als Regierung „der anderen“ wahrgenommen, die „ihren“ Präsidenten seinerzeit gestürzt und ins Exil getrieben hat. Die prowestlichen Politiker aus Kiew haben von Beginn an wenig unternommen, um den Landsleuten im Osten ihren West- und Reformkurs gründlich zu erklären. Der geschasste Präsident Viktor Janukowitsch war zwar auch für die Donezker ein korrupter Gauner, aber er war eben ihr Gauner.
Betriebe sind kaum wettbewerbsfähig
Die Erinnerung tut ein Übriges: Stahlarbeiter und Kohle-Kumpel galten als Eliten des Arbeiter- und Bauernstaats; als hart arbeitende Werktätige erfreuten sie sich eines überdurchschnittlichen Lohns. Erst als die neue Zeit des Kapitalismus hereinbrach, begann der Abstieg der Region. Heute sind die Betriebe selbst im Vergleich mit Russland kaum wettbewerbsfähig; die Hälfte der Anlagen stammt aus den Dreißiger- oder Fünfzigerjahren. Plötzlich degenerierte die Elite der Gesellschaft zu deren Sorgenkindern – was gesellschaftliche Spannungen anheizte, zu Frustration führte und nach einem Schuldigen schrie – Kiew. Inzwischen glauben die Menschen in Donezk selbst, dass ihre „Freischärler“ gegen „Faschisten“ kämpfen, die laut staatlicher Propaganda die Macht im Lande übernommen haben.
Auf dem Markt liegen die Nerven blank. „Hilfe, Hilfe, Polizei“, brüllt eine korpulente Marktfrau, als sie die Kamera erblickt. In kurzer Zeit stürmen Sicherheitsleute herbei. Wie sich herausstellt, fürchtet sich die Dame vor Spionen, die das Gelände auskundschaften. „Und dann kommt wieder die ukrainische Armee und bombardiert uns“, sagt sie, als sie sich beruhigt hat. Dort, am Spielplatz gegenüber, sei neulich erst eine Bombe eingeschlagen. Die Frauen, die den Markt beschicken, waren auch während der übelsten Kämpfe ständig vor Ort – erst langsam aber kehren wieder die Kunden zurück, da die ukrainische Armee den Beschuss aus der City längere Zeit nicht beantwortet hat.
So fern die Ukraine den Menschen auf dem Markt auch ist – der Handel zwischen Donezk und dem Kernland blüht. Lebensmittel beziehen die Marktfrauen aus der Ukraine, denn die Ware aus Russland ist mindestens doppelt so teuer. Kleidung aus China kommt von Großhändlern in Moskau über einen Distributor im ukrainischen Charkow in die Stadt. „Ich hoffe, dass es künftig einen regen Handel mit Russland gibt und wir die Ukraine nicht mehr brauchen“, sagt Tanja, die Obst und Gemüse feilhält. In Russland gebe es alles, was sie brauche. „Und dort herrscht der populärste Präsident, den die Welt je gesehen hat.“ Freilich muss sie sich nebenher mit der Realität in Donezk herumplagen. Den Kunden fehlt Bargeld. „Sie kaufen weniger und wenn, dann nur im Supermarkt, denn da nehmen sie Kreditkarten“, sagt Tanja. Es gab schon mal bessere Zeiten im stolzen Donbass.