Ukraine-Krise Höchste Zeit für Realpolitik

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Zustimmungswerte von 80 Prozent für Putin

Aber so weit wird es nicht kommen. Putin genießt in der heimischen Bevölkerung inzwischen Kultstatus. Je mehr der Westen den russischen Präsidenten dämonisiert, desto höher steigt sein Kurs auf der Beliebtheitsskala seiner Landsleute. Dort kommt er nach den verschärften Sanktionen inzwischen auf Zustimmungswerte jenseits von 80 Prozent. Nur zum Vergleich: Der britische Premier David Cameron schafft es bei seinen Landsleuten auf 30 Prozent, Frankreichs Staatspräsident François Hollande gilt mit nur noch 18 Prozent Zuspruch in seiner Heimat als Totalversager.

Mit Blick auf die Ukraine-Krise fordert Gabor Steingart, Herausgeber des „Handelsblatt“, in einem lesenswerten Artikel („ Der Irrweg des Westens“) die Bundesregierung auf, sich an der Realpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr zu orientieren. Vielleicht ist man in dieser Hinsicht in Berlin gar flexibler als gedacht. Ende Juli berichtete die angesehene britische Tageszeitung „Independent“ von einem Geheimabkommen zwischen Russland und Deutschland zur schrittweisen Beilegung der Ukraine-Krise. Wegen des Absturzes des malaysischen Passagierflugzeuges sollen die Verhandlungen dann abgebrochen worden sein.

Zeitungsente oder nicht, die im „Independent“ beschriebene Vorgehensweise zur Lösung des Ukraine-Konflikts war das Vernünftigste, was bisher auf dem Tisch lag. Ziel des Plans zwischen Berlin und Moskau soll gewesen sein, die Grenzen der Ukraine zu stabilisieren, die Energieversorgung zu sichern und der Wirtschaft des Landes einen kräftigen Schub zu verleihen. Für mehr Unabhängigkeit der Ostukraine hätte Russland den Separatisten die Unterstützung entzogen. Für den Verzicht auf einen Beitritt der Ukraine zur Nato hätte Putin das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine akzeptiert. Die Ukraine hätte einen langfristigen Gasliefervertrag mit Gazprom zu festgelegten Preisen erhalten und bis zu einem Referendum über die Unabhängigkeit der Krim eine Milliarden Dollar schwere Kompensationszahlung erhalten als Ersatz für die bisherigen Zahlungen im Zusammenhang mit der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol. Der Haken: Die Krim wäre endgültig an Russland gefallen. Zudem wären die Geheimverhandlungen vermutlich nicht geheim geblieben. Denn ohne Zustimmung von Dmitri Firtasch geht in der Ukraine in Sachen Gas nichts. Mit seiner Beteiligung von 45 Prozent an RosUkrEnergo, einem hochprofitablen Zwischenhändler für Gaslieferungen aus Russland, gehört Firtash zu den reichsten Männern der Ukraine. Gazprom ist mit 50 Prozent an RosUkrEnergo beteiligt. Der Multi-Milliardär hatte zwischen 2006 und 2009 den ersten großen Gasdeal zwischen der Ukraine und Russland ausgehandelt. Firtasch ist gut vernetzt, sowohl in der russischen also auch in der ukrainischen Führung. Nicht jedem Mächtigen in Kiew könnte an Entspannung gelegen sein.

Realismus ist auch im Hinblick auf einen politischen Neuanfang in der Ukraine gefragt. Das Land wird seit Jahren von der politischen Klasse ausgeplündert. Die Verquickung von Oligarchen und Politikern stellt gar die Verhältnisse in Russland unter Boris Jelzin in den Schatten. Der Westen bewegt sich hier auf Treibsand. Nach der Svoboda-Partei hat sich mit der Radikalen Partei unter Oleg Ljaschko eine weitere große Partei am rechtsextremen Ende des politischen Spektrums der Ukraine in Position gebracht. Nach Umfragen käme sie bei Neuwahlen derzeit auf mehr als 15 Prozent der Wählerstimmen und wäre damit hinter der „Solidarität“ des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko die zweitgrößte politische Kraft im Land. Das politische Programm von Ljascko beschränkt sich im Wesentlichen auf Selbstbereicherung. So wird wohl ein Teil der vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU und den USA versprochenen 35 Milliarden Dollar für die Ukraine bei den Rechtsnationalen landen. Die Aussicht auf die Milliarden aus dem Westen verschärft die Krise ebenso wie das Junktim des IWF, die Gelder nur dann auszuzahlen, wenn die Ostukraine wieder unter Kontrolle von Kiew steht. Der ukrainischen Bevölkerung ist es dagegen völlig egal, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Die Menschen bewegt nur, dass sie von 2015 an ihre Erdgasrechnungen wegen der vom IWF verlangten Preiserhöhungen nicht mehr bezahlen können.

Wenn in Kiew von „territorialer Integrität“ die Rede ist, geht es nicht um veraltete Industrien aus Sowjetzeiten im Osten und schon gar nicht um die Einheit der Ukraine. Es geht um Erdgas. Die Gasreserven des Landes haben eine friedliche Lösung der Krise nahezu unmöglich gemacht. Dumm für die Separatisten, dass sie auf einem Großteil der ukrainischen Gasreserven sitzen. Aus dem Dnjepr-Donezk-Becken kommt 90 Prozent der ukrainischen Gasproduktion. Die US Energy Information Administration (EIA) schätzt die Erdgasvorkommen in der Ostukraine auf 5.578 Milliarden Kubikmeter. Davon seien derzeit 1.189 Milliarden Kubikmeter ökonomisch verwertbar. Zum Vergleich: Die bestätigten Erdgasreserven der USA lagen Ende 2012 bei 8.976 Milliarden Kubikmetern. Eine Lizenz zur Entwicklung von Schiefergasvorkommen in der Ostukraine besitzt Burisma Holdings. Im Mai wurde Hunter Biden in den Verwaltungsrat des größten Gasproduzenten der Ukraine berufen. Bidens Vater Joe ist Vizepräsident der USA.

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