Ukraine Wenig Begeisterung begleitet Parlamentswahl

Am Sonntag wählen die Ukrainer ein neues Parlament. Doch in dem angeschlagenen Land ist die Hoffnung auf einen ernstzunehmenden Wandel abgeflaut. Die Begeisterung der Revolution ist der Alltagsrealität gewichen.

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Passanten laufen an einem Wahlkampf-Poster von Arseniy Yatsenyuk von der Partei Volksfront vorbei: Am Sonntag wählen die Ukrainer eine neues Parlament. Quelle: AFP

Kiew Ewelina Martirosjan blickt über den Maidan und erinnert sich an die Begeisterung, mit der sie an den Protesten teilnahm. Seit der Revolution, die im Frühjahr zum Sturz eines verhassten Präsidenten führte, ist ihr Traum von einer besseren Zukunft für die Ukraine verblasst, durch Krieg und einen Beinahe-Kollaps der Wirtschaft.

Martirosjan ist kein Einzelfall. Die Parlamentswahlen am Sonntag verheißen zwar frische Gesichter in der politischen Szene, aber Millionen Ukrainer versprechen sich vom Wandel keine Verbesserungen für ihr Land. Hurrapatriotismus hat soziale Spaltungen übertüncht, die mit jedem Tag größer zu werden scheinen, die Wirtschaft bricht unter dem Gewicht des ruinösen Krieges gegen prorussische Separatisten im Osten immer mehr zusammen.

„Vielleicht kommen neue Leute, aber alles wird genauso bleiben wie vorher“, sagt Martirosjan. „Es ist nur so, dass sich Leute jetzt in diese Slogans „Ich liebe die Ukraine“ einhüllen.“

Martirosjan ist 25 Jahre alt, zu jung also, um Erinnerungen an die sowjetische Vergangenheit des Landes zu haben. Zorn über die Abwendung des - später gestürzten - Präsidenten Viktor Janukowitsch von der Europäischen Union brachte sie dazu, sich der Protestbewegung anzuschließen. Eine Abkehr der Ukraine vom Westen, möglicherweise unumkehrbar, das konnten die Tausenden von Aktivisten ihres Alters schlicht nicht akzeptieren. Und als Janukowitsch dann im Februar floh, war Begeisterung über die Aussicht auf eine neue Ära des Landes im westlichen Schoß spürbar.

„Es herrschte wirklich eine Überzeugung, dass sich etwas nach vorn bewegen wird“, schildert die junge Frau. „Sie mussten mit uns rechnen, es gab ja so viele von uns.“


Viele Menschen sparen für anstehende Heizkosten

Jetzt steht wieder ein Winter vor der Tür, und die Gedanken wenden sich der alltäglichen Aufgabe zu, die kalte Jahreszeit zu bewältigen. Die Regierung kürzt angesichts der schlechten Finanzlage ihre Ausgaben, und viele Einwohner versuchen selbst zu sparen, um Rücklagen für die Heizkosten in den kommenden Monaten zu haben.

Mangel an Jobs und niedrige Löhne treiben viele Ukrainer als Hilfsarbeiter ins Ausland. Und daran dürfte sich angesichts von Vorhersagen, nach denen die Wirtschaft in der Ukraine dieses Jahr um 6,4 Prozent schrumpft, auf absehbare Zeit nichts ändern.

Währenddessen sieht man Bentleys, Porsches, Jaguare und Range Rovers auf den Straßen von Kiew - Symbol einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in einer Stadt, in der galoppierende Inflation die monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet etwa 470 Euro wegfrisst.

Es sind derartige Ungleichgewichte, die Zynismus und Verzweiflung bei Einwohnern wie Nikolai Kusnezow auslösen. Der Universitätsdozent und sein 28-jähriger Sohn Igor waren eine zeitlang mächtige Symbole der Protestbewegung, als Fotos sie nach Schlägen durch Bereitschaftspolizisten blutüberströmt zeigten.

„Die Erwartungen der Gesellschaft sind weitaus größer als dieses politische System leisten kann“, sagt Kusnezow in seiner mit Büchern gefüllten Wohnung. „Jene, die das Land regieren, sind der Menschen nicht würdig, die auf dem Maidan gestorben sind.“

Angesichts der Kämpfe im Osten trotz einer im vergangenen Monat ausgerufenen Waffenruhe sei es schwer gewesen, sich auf die Wahlen zu konzentrieren, schildert der Dozent. „Unsere Besten sterben auf dem Schlachtfeld. Alle unsere Gedanken und Unterstützung gelten ihnen.“


In Seperatisten-Gebieten wird gar nicht gewählt

Mag die Politik auch Menschen entlang der Parteilinien voneinander trennen, stehen die meisten der von den Fronten entfernt lebenden Ukrainer fest hinter den Truppen und freiwilligen Bataillonen, die gegen die Rebellen kämpfen. Aber das hat zugleich auch äußerst rechte Sichtweisen geschürt, die viele alarmierend finden.

So marschierten in diesem Monat Hunderte junger Männer des rechtsextremen Bataillons „Asow“ in Tarnanzügen durch Kiew. Auf einer anschließenden Kundgebung rief die Menge Slogans aus, die kurzzeitig mit den Nazis verbündete ukrainische Partisanen während des Zweiten Weltkrieges geprägt hatten.

Auch im Osten herrscht vor der Wahl vielfach Gleichgültigkeit. An der nördlichen Zufahrt zur Hafenstadt Mariupol, nur ein paar Kilometer von der Separatistenfront entfernt, zeigen Soldaten an Kontrollpunkten wenig Interesse an dem bevorstehenden Ereignis.

„Diese Wahlen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt absolut nicht nötig“, sagt etwa Jaroslaw Bondarenko. „All diese politische Aufregung, das Gerangel um Positionen, wo doch Menschen sterben, ich weiß nicht, wie ich das nennen soll.“

An vielen Orten in der Stadt mussten Wahlkampfplakate wiederholt ausgewechselt werden, nachdem sie mit Farbe beschmiert worden waren. Die Gleichgültigkeit ist auch ein Symptom dafür, dass es vielen egal ist, wer am Ende den in der Nähe herrschenden Krieg gewinnen wird. „Das Gefühl ist, dass Truppen aus der Stadt abgezogen werden sollten und den Einwohnern erlaubt wird, ein normales Leben zu führen“, sagt Wladimir Dotsenko, ein Bürger von Mariupol.

In Gebieten unter Kontrolle der Separatisten, in denen Hunderttausende Menschen leben, wird am Sonntag überhaupt nicht gewählt: Die Aufständischen betrachten diese Regionen nicht mehr als Teil der Ukraine. Stattdessen planen sie eigene Wahlen im November - in der Hoffnung, dass diese ihnen eine Autorität beschert, die sie sich bisher nur durch Gewalt beschafft haben.

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