Ist die westliche Kritik an Erdoğan möglicherweise kontraproduktiv, weil er sie zu seinem eigenen Vorteil nutzt?
Erdoğan hat über die Jahre enorm von Spaltung und Polarisierung profitiert. Viele seiner Anhänger glauben, dass „ausländische Mächte“ die Türkei zerstören wollten. So sehen es die regierungsfreundlichen Zeitungen: Feinde im Inneren, Feinde von außen. Dieses Klima der Angst und Paranoia ist sehr ungesund für eine Gesellschaft.
Hat die Türkei noch eine Perspektive im Westen?
Ich mache mir Sorgen, weil die AKP den Menschen sagt: Europa will uns nicht mehr und steuert ohnehin ins Chaos. Stattdessen sollten wir uns nach Osten orientieren. Sie redet einer Allianz mit Russland und China das Wort und plädiert dafür, Mitglied der Shanghai Five zu werden. Das ist ein undemokratischer Block. Mich macht das wahnsinnig. Ich will nicht, dass mein Mutterland in diese Richtung geht.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Das Europäische Parlament hat sich jüngst mehrheitlich für einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei ausgesprochen. Was für ein Signal würde davon ausgehen?
Viele Bürokraten in der EU verstehen nicht, dass sie damit den Kräften in die Hände spielen, die eine Isolierung der Türkei wollen. Zu diesen Kräften zähle ich die Ultranationalisten, Islamisten und Autoritären. Diesen Leuten kommt es sehr zupass, wenn die Türkei von Europa abgeschnitten ist. Wir müssen einen nuancierteren Ansatz finden. Einen, der den Menschen in der Türkei das richtige Signal gibt und gleichzeitig der Regierung gegenüber kritisch ist. Deshalb ist ist es so wichtig, zwischen Regierung und Menschen zu unterscheiden. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit zwischen Frauen- und Jugendvereinen, zwischen Künstlern und Organisationen, die sich für Homosexuelle einsetzen, für eine freiheitliche Zivilgesellschaft. Das ist der einzige Weg nach vorn.
Sie haben sehr viele Leser in der Türkei. Wissen Sie, wer die sind?
Meine Leser haben ganz unterschiedliche Hintergründe: links, liberal, säkular, Kurden, Türken, Alewiten, Armenier, Juden, Sufis. Und ich habe viele Leserinnen, die konservative Muslima sind und ein Kopftuch tragen. Diese Menschen reden nicht miteinander, aber sie lesen denselben Roman. Das ist mir wichtig.
Sie leben seit bald sieben Jahren in London. Sind Sie noch oft in der Türkei?
Ich war mein ganzes Leben lang Halbnomadin. Ich bin in Straßburg geboren, in Madrid aufgewachsen, habe in Boston gelebt. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich aber in der Türkei verbracht, in Ankara und Istanbul, wo ich in einer öffentlichen Schule war. Ich bin ein Produkt der Türkei und des Rests der Welt. Es ist möglich, mehr als eine Heimat zu haben und in mehr als einer Sprache zu träumen. Ich bin Istanbul sehr verbunden und vermisse die Stadt. Ich kehre regelmäßig zurück, aber nicht jetzt: Wegen des Ausnahmezustands herrscht Chaos.
Sie sind Teil der türkischen intellektuellen Diaspora. Wie stark ist die noch mit der Türkei verbunden?
Ich bin ein „Insider-Outsider“. Also Insider genug, um zu verstehen, was in der Türkei passiert, und Outsider genug, um dazu eine kritische Position einzunehmen. Das macht einsam. Ich gehöre keinem Lager an. Ich möchte einfach nur ein Individuum sein, eine Geschichtenerzählerin. In einer kollektivistischen Gesellschaft wie der Türkei ist es extrem schwierig, ein Individuum zu sein.