Unfreiheit in der Türkei „Selbstzensur ist in der Türkei weit verbreitet“

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"Feinde im Inneren, Feinde von außen."

Ist die westliche Kritik an Erdoğan möglicherweise kontraproduktiv, weil er sie zu seinem eigenen Vorteil nutzt?
Erdoğan hat über die Jahre enorm von Spaltung und Polarisierung profitiert. Viele seiner Anhänger glauben, dass „ausländische Mächte“ die Türkei zerstören wollten. So sehen es die regierungsfreundlichen Zeitungen: Feinde im Inneren, Feinde von außen. Dieses Klima der Angst und Paranoia ist sehr ungesund für eine Gesellschaft.

Hat die Türkei noch eine Perspektive im Westen?
Ich mache mir Sorgen, weil die AKP den Menschen sagt: Europa will uns nicht mehr und steuert ohnehin ins Chaos. Stattdessen sollten wir uns nach Osten orientieren. Sie redet einer Allianz mit Russland und China das Wort und plädiert dafür, Mitglied der Shanghai Five zu werden. Das ist ein undemokratischer Block. Mich macht das wahnsinnig. Ich will nicht, dass mein Mutterland in diese Richtung geht.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Das Europäische Parlament hat sich jüngst mehrheitlich für einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei ausgesprochen. Was für ein Signal würde davon ausgehen?
Viele Bürokraten in der EU verstehen nicht, dass sie damit den Kräften in die Hände spielen, die eine Isolierung der Türkei wollen. Zu diesen Kräften zähle ich die Ultranationalisten, Islamisten und Autoritären. Diesen Leuten kommt es sehr zupass, wenn die Türkei von Europa abgeschnitten ist. Wir müssen einen nuancierteren Ansatz finden. Einen, der den Menschen in der Türkei das richtige Signal gibt und gleichzeitig der Regierung gegenüber kritisch ist. Deshalb ist ist es so wichtig, zwischen Regierung und Menschen zu unterscheiden. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit zwischen Frauen- und Jugendvereinen, zwischen Künstlern und Organisationen, die sich für Homosexuelle einsetzen, für eine freiheitliche Zivilgesellschaft. Das ist der einzige Weg nach vorn.

Sie haben sehr viele Leser in der Türkei. Wissen Sie, wer die sind?
Meine Leser haben ganz unterschiedliche Hintergründe: links, liberal, säkular, Kurden, Türken, Alewiten, Armenier, Juden, Sufis. Und ich habe viele Leserinnen, die konservative Muslima sind und ein Kopftuch tragen. Diese Menschen reden nicht miteinander, aber sie lesen denselben Roman. Das ist mir wichtig.

Sie leben seit bald sieben Jahren in London. Sind Sie noch oft in der Türkei?
Ich war mein ganzes Leben lang Halbnomadin. Ich bin in Straßburg geboren, in Madrid aufgewachsen, habe in Boston gelebt. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich aber in der Türkei verbracht, in Ankara und Istanbul, wo ich in einer öffentlichen Schule war. Ich bin ein Produkt der Türkei und des Rests der Welt. Es ist möglich, mehr als eine Heimat zu haben und in mehr als einer Sprache zu träumen. Ich bin Istanbul sehr verbunden und vermisse die Stadt. Ich kehre regelmäßig zurück, aber nicht jetzt: Wegen des Ausnahmezustands herrscht Chaos.

Sie sind Teil der türkischen intellektuellen Diaspora. Wie stark ist die noch mit der Türkei verbunden?
Ich bin ein „Insider-Outsider“. Also Insider genug, um zu verstehen, was in der Türkei passiert, und Outsider genug, um dazu eine kritische Position einzunehmen. Das macht einsam. Ich gehöre keinem Lager an. Ich möchte einfach nur ein Individuum sein, eine Geschichtenerzählerin. In einer kollektivistischen Gesellschaft wie der Türkei ist es extrem schwierig, ein Individuum zu sein.

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