Unfreiheit in der Türkei „Selbstzensur ist in der Türkei weit verbreitet“

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak stand 2006 wegen eines Wortes in einem Roman vor Gericht. Heute sei die Zensur noch schlimmer. Ein Gespräch über inhaftierte Intellektuelle und ein Klima der Paranoia.

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Elif Shafak Quelle: dpa

WirtschaftsWoche Online: Frau Shafak, Sie haben zwei Jahre mit Bodyguards an Ihrer Seite verbracht. Kommt die Erinnerung daran bei Ihnen wieder hoch, wenn Sie sehen, was mit Intellektuellen in der Türkei gerade passiert?
Frau Elif Shafak: Das war eine schwierige Zeit damals, richtig surreal. Ich wurde 2006 wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht gestellt, weil ich in meinem Roman „Der Bastard von Istanbul“ das tabuisierte Wort „Genozid“ verwendet hatte. Artikel 301 des Strafgesetzbuchs wurde damals zum ersten Mal im Zusammenhang mit einem literarischen Werk verwandt. Mein türkischer Anwalt musste meine fiktiven, zumeist armenischen Charaktere vor Gericht verteidigen. Das war absurd. Ich wurde als Person verteufelt, Ultranationalisten haben mein Bild bespuckt und daneben die EU-Flagge verbrannt. Aber was heute passiert, ist schlimmer.

Zur Person

Wie schlimm ist die Lage der Intellektuellen?
Mehr als 140 Journalisten sind im Gefängnis. Wissenschaftler, Verleger, Schriftsteller, Karikaturisten wurden festgenommen oder leben in Angst vor einer Festnahme.

Haben Sie Kontakt zu inhaftierten Kollegen?
Ja, aber viele dürfen keine Briefe schreiben und empfangen. Und sie haben nur Zugang zu den Büchern in den Gefängnisbibliotheken, können keine Zeitungen lesen, sind völlig von der Kommunikation mit der Außenwelt abgeschnitten.

Wie stark setzen türkische Künstler vor diesem Hintergrund selbst eine Schere im Kopf an?
Selbstzensur ist in der Türkei weit verbreitet, aber wir reden nicht darüber, weil uns das Thema peinlich ist. Selbstzensur ist ja etwas sehr Subtiles, sie beruht auf der Internalisierung externen Drucks. In der Sowjetunion und im Ostblock haben Schriftsteller etwas Ähnliches erlebt. Deswegen müssen wir Selbstzensur zur Sprache bringen. Nicht nur wenn es um politische Themen geht, sondern auch um sexuelle Tabus.

Wie meinen Sie das?
Wenn Gesellschaften nationalistischer werden, dann werden sie auch tendenziell frauenfeindlicher, aggressiver. Die Macho-Energie nimmt ebenso zu wie die Homophobie. Wir müssen endlich den direkten Zusammenhang zwischen politischen und sexuellen Tabus zur Kenntnis nehmen.

Was kann Kunst unter diesen schwierigen Umständen bewirken?
Künstler müssen jetzt ihre Stimme häufiger erheben! Wir müssen unsere Kokons verlassen, dürfen uns nicht in unsere intellektuellen Ghettos und Echokammern zurückziehen. Unsere Aufgabe ist Empathie. Und Empathie ist wie ein Muskel. Je häufiger man ihn gebraucht, desto besser funktioniert er.

Welche Kraft kann Empathie entfalten?
Eine Welt ohne Empathie ist viel kälter und gefährlicher. Erzähler machen im Grunde nichts anderes, als dem anderen eine menschliche Gestalt zu verleihen. Politische Extremisten machen das Gegenteil: Sie entmenschlichen den anderen. Dagegen kämpfen wir an: Schriftsteller aus Ländern wie der Türkei, aber auch Ägypten, Pakistan, Nigeria – wir haben noch nie den Luxus genossen, unpolitisch sein zu können.

Wie sollte Europa auf die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan reagieren?
Die EU hat in der Vergangenheit keine glückliche Rolle gespielt, viel zu lange hat sie die Verletzungen der Rede- und Pressefreiheit in der Türkei ignoriert. Die EU hat wegen des Flüchtlingsdeals erst Klartext gesprochen, als es schon zu spät war. Viele fortschrittliche Modernisierer in der Türkei fühlen sich allein gelassen und deprimiert – sehr deprimiert.

Worum geht es Erdoğan? Um pure Macht?
Die AKP ist seit 14 Jahren an der Macht, das ist eine lange Zeit. Je länger die Partei an der Macht ist, desto autoritärer wird sie. Das größte Problem in der Türkei liegt darin, dass die Elite der AKP reine Mehrheitsherrschaft und Demokratie verwechselt. Wir brauchen aber genauso Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Rechte für Frauen und Minderheiten. Erdoğan bewegt sich in Richtung eines präsidentiellen Systems.

"Feinde im Inneren, Feinde von außen."

Ist die westliche Kritik an Erdoğan möglicherweise kontraproduktiv, weil er sie zu seinem eigenen Vorteil nutzt?
Erdoğan hat über die Jahre enorm von Spaltung und Polarisierung profitiert. Viele seiner Anhänger glauben, dass „ausländische Mächte“ die Türkei zerstören wollten. So sehen es die regierungsfreundlichen Zeitungen: Feinde im Inneren, Feinde von außen. Dieses Klima der Angst und Paranoia ist sehr ungesund für eine Gesellschaft.

Hat die Türkei noch eine Perspektive im Westen?
Ich mache mir Sorgen, weil die AKP den Menschen sagt: Europa will uns nicht mehr und steuert ohnehin ins Chaos. Stattdessen sollten wir uns nach Osten orientieren. Sie redet einer Allianz mit Russland und China das Wort und plädiert dafür, Mitglied der Shanghai Five zu werden. Das ist ein undemokratischer Block. Mich macht das wahnsinnig. Ich will nicht, dass mein Mutterland in diese Richtung geht.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Das Europäische Parlament hat sich jüngst mehrheitlich für einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei ausgesprochen. Was für ein Signal würde davon ausgehen?
Viele Bürokraten in der EU verstehen nicht, dass sie damit den Kräften in die Hände spielen, die eine Isolierung der Türkei wollen. Zu diesen Kräften zähle ich die Ultranationalisten, Islamisten und Autoritären. Diesen Leuten kommt es sehr zupass, wenn die Türkei von Europa abgeschnitten ist. Wir müssen einen nuancierteren Ansatz finden. Einen, der den Menschen in der Türkei das richtige Signal gibt und gleichzeitig der Regierung gegenüber kritisch ist. Deshalb ist ist es so wichtig, zwischen Regierung und Menschen zu unterscheiden. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit zwischen Frauen- und Jugendvereinen, zwischen Künstlern und Organisationen, die sich für Homosexuelle einsetzen, für eine freiheitliche Zivilgesellschaft. Das ist der einzige Weg nach vorn.

Sie haben sehr viele Leser in der Türkei. Wissen Sie, wer die sind?
Meine Leser haben ganz unterschiedliche Hintergründe: links, liberal, säkular, Kurden, Türken, Alewiten, Armenier, Juden, Sufis. Und ich habe viele Leserinnen, die konservative Muslima sind und ein Kopftuch tragen. Diese Menschen reden nicht miteinander, aber sie lesen denselben Roman. Das ist mir wichtig.

Sie leben seit bald sieben Jahren in London. Sind Sie noch oft in der Türkei?
Ich war mein ganzes Leben lang Halbnomadin. Ich bin in Straßburg geboren, in Madrid aufgewachsen, habe in Boston gelebt. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich aber in der Türkei verbracht, in Ankara und Istanbul, wo ich in einer öffentlichen Schule war. Ich bin ein Produkt der Türkei und des Rests der Welt. Es ist möglich, mehr als eine Heimat zu haben und in mehr als einer Sprache zu träumen. Ich bin Istanbul sehr verbunden und vermisse die Stadt. Ich kehre regelmäßig zurück, aber nicht jetzt: Wegen des Ausnahmezustands herrscht Chaos.

Sie sind Teil der türkischen intellektuellen Diaspora. Wie stark ist die noch mit der Türkei verbunden?
Ich bin ein „Insider-Outsider“. Also Insider genug, um zu verstehen, was in der Türkei passiert, und Outsider genug, um dazu eine kritische Position einzunehmen. Das macht einsam. Ich gehöre keinem Lager an. Ich möchte einfach nur ein Individuum sein, eine Geschichtenerzählerin. In einer kollektivistischen Gesellschaft wie der Türkei ist es extrem schwierig, ein Individuum zu sein.

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