Heute ist jedem klar, dass ein Zuviel an Ungleichheit und Armut in den Ländern den sozialen Zusammenhalt schwächt, die Kriminalität fördert, die Nachfrage bremst und die Volksgesundheit verschlechtert. Und dass der Aufstieg der Mittelschichten in China und Indien die Ungleichheit zwischen den Ländern zugleich verringert hat.
Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) und sein Schüler Gabriel Zucman („Steueroasen“) haben ihre Leser vor drei Jahren noch mit einem stupenden Mix aus Empörungsbereitschaft und akademischem Selbstbewusstsein überrumpelt, um aus „erstmalig“ ausgewerteten Primärquellen und „exklusiven“ Berechnungen Einwände gegen den Reichtum des „obersten Prozents“ und gegen den Finanzkapitalismus zu erheben.
Nun sind zwei Bücher auf Deutsch erschienen, die hinsichtlich Anspruch, Stil und Inhalt das Kriterium von allgemein verständlichen Grundlagenwerken erfüllen und der Diskussion in den nächsten Jahren Ton und Richtung vorgeben. Der US-Amerikaner Branko Milanović, ein ehemaliger Weltbank-Ökonom, und Anthony Atkinson, der britische Doyen der Ungleichheitsforschung, überzeugen mit nüchtern präsentiertem Datenreichtum – und mit der zweifelnden Lust an der Überprüfung der eigenen Argumente. Besonders wohltuend ist, dass die beiden Ökonomen keine branchentypischen Modell-Athleten sein wollen, im Gegenteil: Milanović und Atkinson sind an der Totalität ganzer Gesellschaften, an historischen Verläufen und internationalen Vergleichen interessiert – und emanzipieren die Wirtschaftswissenschaften damit (zurück) vom Dienstleister für den optimierten Produktionsprozess zu einer anspruchsvollen social science.
Viele Gewinner - und weniger Verlierer
Milanović richtet sein Augenmerk auf globale Entwicklungen und stellt nüchtern fest: Die Ungleichheit geht zurück; die Welt ist ökonomisch betrachtet „ein gerechterer Ort als früher“. Der Grund: Es gibt viele Gewinner der Globalisierung und deutlich weniger Verlierer. Anderthalb Milliarden Menschen in China und Indien, aber auch in Vietnam oder Indonesien sind dank hoher Einkommenszuwächse aus relativer Armut aufgestiegen. Dagegen sind Hunderttausende in den USA und Europa, zumeist aus der unteren Mittelschicht, aus relativem Reichtum abgestiegen. Ihre Einkommenszuwächse von 1988 bis 2008 sind gleich null.
Blickt man auf die absoluten Einkommenszuwächse, ist die aufstrebende Mittelschicht in den Schwellenländern allenfalls zweiter Sieger. Nicht weil sie beim Einkommensniveau immer noch weit hinter der schrumpfenden middle class in den Industrieländern rangiert. Sondern weil die reichsten der Reichen die Sieger aller Sieger sind. 44 Prozent des absoluten globalen Einkommenszuwachses floß den obersten fünf Prozent der Weltbevölkerung zu, rechnet Milanović vor, und 19 Prozent dem obersten einen Prozent – deutlich mehr als die gesamte Schwellenländer-Mitte für sich verbuchen kann.
Atkinson konzentriert sich auf die „Ungleichheitswende“ in den Industrieländern. Sie hat sich nach Jahrzehnten der Nivellierung in den Siebzigerjahren vollzogen und in den USA besonders dramatische Züge angenommen. Während neun von zehn Amerikanern seit 1972 reale Einkommensverluste hinnehmen, streicht das reichste Prozent heute ein Fünftel des Nationaleinkommens ein. Auf das reichste Prozent dieses einen Prozents (0,01 Prozent der Bevölkerung) wiederum entfallen vier Prozent des Nationaleinkommens.
Milanović und Atkinson lassen keinen Zweifel daran, dass sie eine gerechtere Verteilung des Reichtums für notwendig halten, wollen die westlichen Demokratien nicht an Stabilität verlieren: „Eine Gesellschaft, in der niemand private Abstecher ins All, dafür aber jeder sein Essen in normalen Geschäften bezahlen kann, hätte mehr Zusammenhalt.“ Beide Ökonomen bieten eine Fülle von Vorschlägen, die die Denkschemata der Politik sprengen: ein aus Vermögenssteuern zu finanzierendes „Erbe“ für jeden, der das Erwachsenenalter erreicht, eine Konzentration der Forschungsförderung auf arbeitsplatzschaffende Innovationen, aber auch höhere Steuersätze für Zuwanderer. Unbezahlbar? Milanović und Atkinson rechnen vor, dass die Kosten der Ungleichheit höher, ja: unberechenbar sind. Wann zuletzt waren die Wirtschaftswissenschaften inspirierender?