Venezuela Der Machtkampf von Caracas

Die Situation ist bizarr: Höchste Inflation der Welt, aber kein Papier für neue Scheine. Wasser teurer als Benzin, ein Präsident der Salsa tanzt und Waffen an seine Milizen verteilt. Venezuela hat den Sozialismus satt.

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Die Massen demonstrieren gegen Präsident Nicolas Maduro. Quelle: AFP

Caracas Carlos Moreno hatte gerade erst mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften begonnen. Nun ist er tot, gestorben bei der „Mutter aller Demonstrationen“ durch einen Kopfschuss in seinem Kampf für ein besseres Venezuela. Er wurde noch per Motorrad zum Hospital de Clínicas in Caracas gebracht, aber Ärzte konnten den 17-Jährigen nicht mehr retten. Als Täter werden radikale Milizen der Sozialisten vermutet, die vermummt auf Motorrädern Demonstranten angreifen.
Mehrere Millionen Menschen säumten am Mittwoch die Straßen des Landes mit den größten Ölreserven der Welt, ein Meer aus gelb-blau-roten Fahnen. Und das soll jetzt so weitergehen. Der Schlachtruf: „No mas dictadura“, „keine Diktatur mehr“. Und: „Sí, se puede“, „Ja, wir schaffen das.“ Neben Moreno starb noch eine junge Frau, es gab über 400 Festnahmen, Caracas lag unter Tränengaswolken. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro sieht die Opposition als Handlager der USA, die eine Intervention planten. Und lässt nun rund 500 000 Milizionäre mit Gewehren ausrüsten.

Das Land hat sich zu einem der bizarrsten und gefährlichsten der Welt entwickelt. Reich an Öl und Wasser, aber an Tankstellen geht das Benzin aus. Trinkwasser ist Mangelware. Und Maduro, der sich auf den liberalen Befreier Südamerikas, Simón Bolívar, beruft, zieht die Schrauben an, wittert Putsch- und Interventionsgefahr: „Die USA haben grünes Licht dafür gegeben“, meint er. Namentlich Parlamentspräsident Julio Borges wirft er vor, mit dem Ausland gemeinsame Sache zu machen. Noch ein Feindbild: Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, der zu Maduros schärfsten Kritikern gehört. Zu Ostern brannten „Judas-Figuren“ mit Almagros Bild.
Ein Besuch in Caracas, der Frontstadt eines ums Überleben kämpfenden „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, gibt Einblicke in einen Alltag, den viele nicht mehr ertragen - Zehntausende sind schon geflüchtet.

Da sind zum Beispiel die Mafiastrukturen und die Unsicherheit. Wenn der Flughafen die Visitenkarte eines Landes ist, sagt der Airport Simón Bolívar viel über Venezuela anno 2017 aus – es gibt kaum noch Flüge hierhin. Die bestellte Fahrerin ist hochnervös, zwei Polizisten hätten sich gerade Zeichen gegeben, das Auto zu überfallen. Es geht über mehrere Kilometer einen Berg hinauf, immer wieder würden Autos mit Waffengewalt angehalten und Fahrgäste ausgeraubt, erzählt sie und gibt mächtig Gas. Heile angekommen in Caracas, bekreuzigt sie sich.


„Wenn wir den Weg der Gewalt einschlagen, verlieren wir“

Das ist zum Beispiel die mit mehr als 700 Prozent höchste Inflation der Welt: Für einen Euro gibt es auf dem Schwarzmarkt 4900 Bolivares, bis vor kurzem war der 100er der größte Schein. Macht 49 Scheine für einen Euro. Dann führte Maduro neue Scheine ein, aber der größte, der 20 000-er ist noch mehr Mangelware als frisches Brot, da Papier und Tinte fehlen. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet noch rund zehn Euro im Monat.
Auch weil das Land ständig am Rande der Pleite steht und die Schulden bedienen muss, fehlt Geld, um im Ausland Lebensmittel und Medikamente einzukaufen - aber die Oberschicht findet Wege, sich zu alimentieren.

Venezuela gehört zu den zehn Ländern mit der höchsten Dichte an Privatflugzeugen, bis Miami sind es sechs Stunden, da wird dann oft eingekauft. Ein Grund für die Knappheit ist auch die irrwitzige Subventionierung von Benzin von acht bis zehn Milliarden Dollar im Jahr, in Zeiten der heimischen Geldentwertung immer schwieriger zu finanzieren. Auf den Demonstrationen gibt es die Flasche Wasser für 1500 Bolivares, dafür bekommt man an der Tankstelle 250 Liter Benzin.
Die größte Müllkippe heißt ausgerechnet „La Bonanza“, doch statt Goldgräberstimmung gibt es hier nur Überlebenskampf. Mit der rechten Hand werden die Geier vertrieben, mit der linken in den abgeladenen Abfällen nach Essensresten gesucht. Wer nicht mit den Sozialisten ist, ist im Nachteil. Um in den Genuss von Lebensmittelpaketen zum Preis von 10 000 Bolivares zu kommen (unter anderem ein Liter Öl, zwei Kilo Reis, zwei Dosen Thunfisch, Milchpulver, zwei Kilo Mehl) muss man ein „Carnet de la Patria“ beantragen - und sich bereit erklären, die Regierung zu unterstützen. So wird Regierungstreue erkauft. Denn alle anderen müssen in Schlangen vor oft leeren Supermärkten stehen.

Letztens wurde sogar der völlig abgemagerte Elefant Ruperta im Zoo von Caracas zum Politikum - dort kreisen über den geschwächten Tieren hunderte lauernde Geier. Bei einem Gespräch über all die Absurditäten im einst reichsten Land Südamerikas meint der Universitätsprofessor Alex Fergusson: „Das hat inzwischen Züge einer Tragikomödie.“ Wer die Stirn bietet, lebt gefährlich. Das zeigt auch ein Treffen mit Freddy Guevara, dem Vizepräsidenten des Parlaments, das eigentlich nur noch auf dem Papier existiert, was die Proteste seit Anfang April befeuert hat.
Er ist einer der neuen Hoffnungsträger, der 31-Jährige kommt aus der Studentenbewegung und ist Generalsekretär der Partei Voluntad Popular. Er lebt in einer hermetisch abgeriegelten Hochhausanlage, ein Sicherheitsmann checkt vor dem Eingangstor die Lage, dann geht es rauf und runter per Wagen durch ein Parkhaus, hinein in einen Aufzug, der nur mit spezieller Karte bedient werden kann. Die Wohnung ist klein, er ist übernächtigt von den Protesten, in der Ecke steht eine Gitarre, er ist Musiker. Im Bücherregal findet sich unter anderem ein Buch mit dem Titel „Tools for Radical Democracy“ - „Anleitung für radikale Demokratie“. Da ist Venezuela gerade weit von entfernt.

Er warnt alte Fehler zu wiederholen, alle Maßnahmen der Sozialisten zu verteufeln - Sozialprogramme seien die Grundlage für sozialen Frieden. Sein Masterplan, wenn es wirklich friedlich ablaufen und zum Machtwechsel durch Wahlen kommen sollte? Wegen der enorm hohen Verschuldung brauche Venezuela einen Schuldenschnitt – und eine Diversifizierung der Wirtschaft. 90 Prozent der Einnahmen kämen aus dem Erdölgeschäft – diese Abhängigkeit wurde dem Land bei den fallenden Preisen zum Verhängnis. Aber er glaubt mehr an einen Marathonlauf als an einen Sprint für die Sanierung. Eines müsse allen klar sein. „Wenn wir den Weg der Gewalt einschlagen, verlieren wir“, sagt Guevara.

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