Venezuela Gute Noten? Gegen Milch und Mehl

Maria Arias ist 14 Jahre alt und will nur eins: zur Schule gehen. Doch gerade wurde wieder einer ihrer Lehrer erschossen. Und Lebensmittel besorgen ist wichtiger als zu lernen. Venezuelas Schulsystem bricht zusammen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Weite Teile des venezolanischen Bildungssystems stehen vor dem Zusammenbruch. Quelle: AP

Caracas Maria Arias steckt ihre Hefte in den Rucksack, schnappt sich eine Banane und macht sich auf den Weg zum Unterricht. Der Schulweg der 14-jährigen Venezolanerin führt durch enge Straßen, die so berüchtigt sind für Kriminalität, dass kein Taxifahrer sie mehr ansteuert. Maria hofft, dass heute wenigstens einer ihrer Lehrer zur Arbeit kommen wird.

Doch schon die erste Stunde um sieben Uhr fällt aus, weil sich der Kunstlehrer krank gemeldet hat. Auch Geschichte findet nicht statt, Sport ohnehin nicht, nachdem der Lehrer vor ein paar Wochen erschossen wurde. Am Nachmittag entlässt der Spanisch-Lehrer die Schüler vorzeitig, damit diese nicht gegen eine von den Straßengangs verordnete Ausgehsperre verstoßen.

„Wir sitzen in der Falle“, sagt Maria. „Wir riskieren unser Leben, um hierher zu kommen und müssen dann stundenlang untätig warten. Aber man muss weiter zur Schule gehen, weil sie der einzige Ausweg ist.“

Die steigende Kriminalität und das wirtschaftliche Chaos in Venezuela greifen inzwischen auch auf das einst gut funktionierende Schulsystem über. Kinder aus armen Familien wie Maria verlieren jede Chance auf ein besseres Leben. Offiziell fielen landesweit seit Dezember 16 Unterrichtstage wegen einer Energiekrise aus. Doch nach Schätzung einer Elternorganisation waren es im Durchschnitt 40 Prozent aller Schulstunden.

Ein Drittel der verarmten Lehrer kommt demnach nicht zum Dienst und reiht sich stattdessen in Warteschlangen bei Essensausgaben ein. An Marias Schule wurden so viele Jungen und Mädchen wegen Hungers bewusstlos, dass die Schulleitung die Eltern aufrief, unterernährte Kinder zu Hause zu lassen.

Hinzu kommt, dass trotz verschlossener Pausenhoftore immer wieder bewaffnete Einbrecher in die Schulen eindringen und die Kinder bedrohen. „Dieses Land hat seine Kinder im Stich gelassen“, sagt die Sprecherin der Bewegung Organisierter Eltern, Adelba Taffin. „Wenn wir die vollen Auswirkungen zu spüren bekommen, wird es zu spät sein für eine Korrektur.“


„Wenn ich nicht anstehe, habe ich nichts zu essen“

Noch vor kurzem zählten die venezolanischen Schulen zu den besten in Südamerika. Der verstorbene Präsident Hugo Chavez hatte die Bildung zu einem Schwerpunkt seiner sozialistischen Revolution erklärt. Doch innerhalb weniger Jahre haben der fallende Ölpreis und wirtschaftliches Missmanagement das Land an den Rand des Ruins getrieben. Nun trifft es auch die sieben Millionen Schüler an staatlichen Schulen mit voller Härte. Lehrer fliehen aus dem Land, die jährliche Schulabbrecherquote hat sich verdoppelt, und mehr als ein Viertel aller Jugendlichen besuchen gar keine Schule mehr.

Marias Alltag an ihrer Schule mit 1.700 Schülern in der Hauptstadt Caracas ist ein trauriges Beispiel. Dabei geht es der Einrichtung, die zwischen einem Slum und einem ehemaligen Mittelklasseviertel liegt, immer noch besser als den meisten Schulen auf dem Land. Dort fällt der Unterricht oft mehrere Wochen am Stück aus.

Für Maria hatte das Schuljahr noch hoffnungsvoll begonnenen. Das wissbegierige Mädchen, das von seinem Mitschülern „Wikipedia“ genannt wird, träumte davon, Wirtschaftsprüferin zu werden und nach Paris zu ziehen. Ihre Eltern hatten Geld gespart, um der Tochter zwölf neue Hefte kaufen zu können, eins für jedes Fach. Doch neun Monate später sind die meisten Seiten immer noch leer.

Die Buchführungslehrerin von Marias Klasse, Betty Cubillan, erschien kürzlich eineinhalb Wochen lang nicht zum Unterricht. Sie sagt, sie versuche, so wenig Stunden wie möglich ausfallen zu lassen, müsse aber auch sehen, wie sie mit umgerechnet 27 Euro im Monat auskomme. „Wenn ich mich nicht (an der Lebensmittelausgabe) anstelle, habe ich nichts zu essen“, sagt Cubillan. „Wer soll das für mich machen?“

Wie ihr geht es nach Angaben der Lehrergewerkschaft bis zu 40 Prozent der Kollegen. Schuldirektorin Helena Porras bat umliegende Supermärkte, Lehrer vorzulassen. Zudem maßregelte sie Mitglieder des Kollegiums, die Schülern im Austausch für knappe Nahrungsmittel wie Milch und Mehl gute Noten gaben.


„Das Herz rutscht mir in die Hose“

Doch mit Appellen an das Schamgefühl der Lehrer kommt sie nicht weit in einem Land, das zu den gewaltsamsten der Welt gehört. Maria hat auf ihrem Schulweg schon Raubüberfälle, Plünderungen und Lynchmobs beobachtet. Sie selbst und ihre Schwester wurden schon einmal von einem Jungen mit einer Waffe bedroht, der nach ihren Handys verlangte.

„Ich habe jeden Tag Angst“, sagt die 14-Jährige. „Das Herz rutscht mir in die Hose und ich denke: Mein Gott, die Schule sollte doch ein sicherer Ort sein.“ Optisch erinnern die Lernanstalten eher an großstädtische Busbahnhöfe: schmutzig, nach Urin stinkend und voll mit Menschen, die auf etwas warten, das vielleicht nicht kommt.

Kürzlich wurde Maria von ihrer Mutter gebeten, die Kunststunde ausfallen zu lassen und stattdessen zu einem Laden zu gehen, in dem es Mehl zu kaufen gab. Doch als das Mädchen dort eintraf, waren die Vorräte schon wieder ausverkauft. Maria raste zurück in die Schule, um am Nachmittag eine Mathearbeit zu schreiben. Doch der Lehrer erschien erst gar nicht.

An diesem Abend bemerkte die Schülerin bitter, dass die U-Bahn das günstigste sei, was man in Caracas kaufen könne: Man bezahle für eine Fahrkarte und werfe sich vor den Zug – dann seien alle Probleme vorbei.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%