Es ist eine Zumutung, wenn Reste von Pferdefleisch in einer Lasagne auftauchen, die nicht als Pferdefleisch-Lasagne deklariert ist. Und natürlich ist es kein Trost oder gar eine Entschuldigung, wenn die Hersteller der Produkte das nicht willentlich getan haben, sondern es irgendwo in der Produktkette zu einem Fehler gekommen ist. Nun stellen Sie sich einmal vor, es gäbe ständig solche Skandale. Jeden Tag würde irgendwo in Europa ein Lebensmittelskandal bekannt werden, ekliger, aber vor allem gefährlicher als ein paar Gramm Pferd. Schwer vorstellbar?
Genau das aber ist die Situation in China.
Letzte Woche zum Beispiel: Da schwammen mehrere tausend (zunächst war von 2000, dann 6000, später sogar 10.000 die Rede) tote Schweine durch den Huangpu. Das ist der Fluss, der durch Shanghai fließt, und an dem auch ein Teil der Wasserversorgung von 23 Millionen Menschen hängt. Bauern flussaufwärts hatten die toten Tiere dort hineingeschmissen. Was genau passiert ist, weiß noch niemand.
Eine Vermutung: Die Tiere waren krank und sollten illegal an einen Geschäftsmann verkauft werden. Der aber saß bereits wegen eines anderen Vergehens im Gefängnis und konnte die kontaminierte Ware nicht annehmen. Um Geld für die Entsorgung zu sparen, warf der Verkäufer die Schweine eben in dem Fluss. Genau aber weiß man nicht einmal das, denn Informationen werden von den Behörden nur stückchenweise herausgegeben.
"Man kann das auch positiv sehen", sagt Wu Heng. "Wären die Schweine nicht im Fluss gelandet, hätte irgendjemand das vergiftete Fleisch gegessen." Der 27-jährige Wu ist ein Zyniker. Wäre er keiner, würde er wahrscheinlich verzweifeln. Er hat die Website ins Netz www.zccw.info gestellt, die Lebensmittelskandale in China dokumentiert. "In China passiert täglich ein Lebensmittelskandal. Manchmal sind es auch mehrere an einem Tag."
Lebensmittelskandale sind Chinas größtes Problem
Nur die größten erreichen auch die internationalen Medien: 2008 kam ans Licht, dass Milchpulver für Babynahrung mit Melanin verseucht war. 2011 gingen Bilder von explodierenden Wassermelonen durch das Internet - das Obst war mit Wachstumsbeschleunigern malträtiert worden. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Ekel-Arie mit dem Speiseöl-Skandal: Findige Ölverkäufer hatten altes Speiseöl aus Abwasserkanälen abgeschöpft und wieder an Restaurants verkauft. Auch ausländische Unternehmen sind vor den Lebensmittelskandalen nicht gefeit: Im Dezember wurde heraus, dass das Hühnerfleisch bei der in China sehr erfolgreichen Fastfood-Kette "Kentucky Fried Chicken" exzessiv hohe Antibiotika aufweisen. Der Umsatz ist seitdem massiv eingebrochen: Im Januar fielen die Verkäufe um 41 Prozent.
Anfangs dachte er noch, erzählt Wu, verseuchte Babynahrung betreffe ihn nicht. Er habe ja schließlich keine Kinder. Dann aber erfuhr er, dass billiges Schweinefleisch mit einem krebserregenden Additiv versetzt und als Rindfleisch deklariert worden war. "Rindfleisch mit Reis - das war mein Lieblingsgericht", sagt Wu. "Ich habe das fast jeden Tag gegessen, über ein halbes Jahr lang." Im Juni 2011 startete Wu seine Website. "Es geht uns alle an", sagt Wu. "Ich möchte, dass wir uns wenigstens darüber informieren können." Jetzt besuchen das Projekt jeden Tag mehr als 10.000 Internet-User.
Mittlerweile ist Lebensmittelsicherheit zu einem der größten Probleme des Landes geworden. Ein ganzes Volk ist verunsichert: 41 Prozent der Chinesen sehen altes Speiseöl, schwimmende Schweinekadaver und explodierende Wassermelonen als das größte Probleme des Landes, 2008 waren das nur acht Prozent.
Weshalb es in China zu so vielen Lebensmittelskandalen kommt, hat viele Ursachen - an fehlenden Gesetzen aber liegt es nicht unbedingt. "Das Problem ist die Umsetzung", sagt Xavier Burchard, Experte für Lebensmittelsicherheit beim EU-China Handelsprojekt. Es gebe zu viele Verantwortliche mit zu wenig Verantwortungsgefühl. "Beamte müssen nicht um ihren Job fürchten, wenn sie versagen", sagt auch Wu.
Superministerium soll helfen
Die Regierung sieht das Problem sehr deutlich und kündigt immer wieder an, dagegen vorzugehen. So gab Peking am 10. März bekannt, eine neue Superministerium zu schaffen. Die "General Food and Drug Administration" soll "die Sicherheit der Nahrung und Medikamente der Nation verbessern", sagte der stellvertretende Minister Chen Xiaohong der chinesischen Zeitung "China Daily".
Doch das Problem sitzt noch tiefer: Chinas Landwirtschaft ist extrem fragmentiert: 200 Millionen Familien bewirtschaften jeweils eine Fläche von durchschnittlich 0,6 Hektar. Was nach Öko-Romantik klingt, kann fatale Konsequenzen haben: Die zersplitterte Struktur macht es extrem schwierig, einheitliche Qualitätsstandards durchzusetzen und zu gewährleisten. Mit diesem Problem haben auch ausländische Konzerne wie Metro, Carrefour oder eben KFC zu kämpfen. Dazu kommen rund eine halbe Million Firmen, die in der Nahrungsmittelindustrie tätig sind - die meisten davon mit weniger als zehn Mitarbeitern. Denen fehlen meist die Ressourcen, in bessere Technik und Qualität zu investieren.
"Darüber hinaus sind manche Bauern auch nicht über die komplexen Gefahren wie zum Beispiel Bakterien-Resistenzen informiert", sagt Javier Burchard. So könne es passieren, dass jahrelang Schweine oder Hühner mit viel zu hohen Mengen von Antibiotika gefüttert werden. Das liegt weniger an der Profitgier der Bauern als an Unkenntnis.
Auch die schiere Größe Chinas lässt Lebensmittelskandale so bedrohlich werden: Kein anderes Land konsumiert so viel Schweinefleisch im Jahr wie China. 2012 wurden etwa 700 Millionen Schweine gezüchtet. Bei einer normalen Krankheitsrate von drei Prozent sind das 18 Millionen tote Tiere im Jahr, schätzt das Wirtschaftsmagazin Caixin. Ein Bruchteil davon, aber eben immerhin 10.000, schwammen im Huangpu. In Jiaxing, woher die Tiere stammten, gebe es nicht genügend Kapazitäten, um notgeschlachtete Tiere zu verbrennen oder zu beerdigen, so Caixin. Außerdem fehle ein dringend nötiges Registrierungssystem.
Am Ende der Kette steht der Konsument, der Opfer des Skandals und zugleich Teil des Problems ist. "Die Leute wollen eben nicht viel Geld ausgeben", sagt Wu Heng. Darin unterscheiden sich Chinesen nicht von Deutschen.