Verfassungsreform in der Türkei Erdogans Dauerkarte für den Präsidentenpalast

Die Pläne für eine Präsidialsystem in der Türkei haben nichts mit ihm zu tun, sagt Erdogan. Die Opposition sieht das anders. Sie befürchtet ein Szenario, in dem der Präsident bis 2034 an der Macht bleiben könnte.

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Anzeichen von Amtsmüdigkeit hat Erdogan bislang nicht erkennen lassen. Quelle: AP

Ankara Im Parlament in Ankara geht es häufiger zur Sache, gelegentlich fliegen auch die Fäuste. Die Auseinandersetzungen in der laufenden Debatte über die Verfassungsreform sind allerdings von außergewöhnlicher Härte. Die Bilanz einer nächtlichen Sitzung, die zur Massenschlägerei ausartete: eine angebliche Bisswunde am Bein eines AKP-Abgeordneten, eine gebrochene Nase bei einem seiner Parteifreunde, ein beschädigtes Rednerpult. Stühle flogen und auch ein Blumentopf. Es geht um nicht weniger als um einen Systemwechsel in der Türkei – der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan unter Umständen ermöglichen könnte, bis 2034 an der Macht zu bleiben.

Seit vergangenem Montag streitet das Parlament über die Verfassungsreform, an deren Ende das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem stehen soll. In 18 Artikeln sind die Vorschläge von Erdogans AKP zusammengefasst, die den Präsidenten im europäischen Vergleich ungewöhnlich mächtig machen würden. Unter der neuen Ordnung sollen Präsident und Parlament am 3. November 2019 erstmals gemeinsam gewählt werden. Auch in der geänderten Verfassung soll die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Perioden beschränkt sein - eigentlich.

Denn die AKP hat eine Hintertür eingebaut. Artikel 11 regelt, dass künftig sowohl das Parlament (mit einer Dreifünftelmehrheit) als auch der Präsident Neuwahlen ausrufen können sollen. Egal, welche der beiden Seiten den Schritt veranlassen würde: Parlament und Präsident würden dann beide neu gewählt. Was der größten Oppositionspartei – der Mitte-Links-Partei CHP besonders aufstößt, ist dieser Zusatz: „Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.“

Eigentlich läuft Erdogans erste Amtsperiode als Präsident schon seit seiner Wahl zum Staatschef 2014. Die CHP und der unabhängige Verfassungsrechtler Prof. Ersan Sen sind sich aber einig darin, dass die Reform den Zähler quasi wieder auf Null setzen würde. Das von der CHP befürchtete Szenario sähe so aus: Erdogan gewinnt die Wahl am 3. November 2019 und auch die nächste 2024. Vor Ablauf seiner zwei Amtsperioden im November 2029 löst das Parlament auf Erdogans Bestreben hin dann Neuwahlen aus - die er wieder gewinnt.

Dann könnte Erdogan bis 2034 durchregieren - und vielleicht noch länger: Der Experte Sen und der CHP-Abgeordnete und Jurist Sezgin Tanrikulu erkennen in Artikel 11 kein Hindernis, die Amtsverlängerung per Neuwahl beliebig oft wiederholen zu lassen. „Der Artikel 11 wurde für einen Anführer entworfen, der permanent an der Macht bleiben will“, sagt Tanrikulu. Mit dieser Änderung könne „dieselbe Person 15 Jahre und sogar noch länger die Funktion des Präsidenten ausüben“.


„Wer weiß schon, wer stirbt und wer am Leben bleibt?“

Erdogan weist den Verdacht empört von sich, dass das von ihm seit Jahren mit aller Kraft vorangetriebene Präsidialsystem am Ende auf ihn persönlich zugeschnitten sein könnte. „Diese Sache hat doch bitte nichts mit meiner Person zu tun“, sagt er. „In der Türkei wird eine Verfassungsänderung durchgeführt, nur darum geht es. Wer weiß schon, wer sich an einer zukünftigen Präsidentenwahl beteiligt, wer sie gewinnt, wer stirbt und wer am Leben bleibt?“

Niemand in der Türkei rechnet allerdings damit, dass Erdogan - wenn seine Reform durchs Parlament kommt und im Frühjahr die Mehrheit in einem Referendum erzielt - bei der Wahl 2019 nicht antreten würde. Anzeichen von Amtsmüdigkeit hat der 62-Jährige bislang nicht erkennen lassen. 2003 wurde er Ministerpräsident, 2014 Staatschef. 2034 wäre er theoretisch mehr als 30 Jahre lang an der Macht.

Dass die amtszeitverlängernde Klausel in Artikel 11 nur gilt, wenn das Parlament die Neuwahlen veranlasst, dürfte kaum ein wirksamer Schutzmechanismus sein. Mit der Verfassungsreform soll das Verbot gekippt werden, dass der Präsident keiner Partei angehören darf. Es hat Erdogan sowieso nie davon abgehalten, die AKP zu lenken. Nur eine Frage der Zeit dürfte es sein, bis Erdogan nicht nur der heimliche, sondern auch wieder der offizielle Parteichef wäre.

Dass das Parlament schon jetzt Erdogans Wünschen folgt, hat sich etwa im vergangenen Frühjahr gezeigt: Auf Erdogans Bestreben stimmte das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit dafür, die Immunität von zahlreichen Abgeordneten aufzuheben. Auch die aktuelle Debatte über die Verfassungsänderungen taugt als Beleg: Obwohl sich das Parlament mit der Reform selbst entmachten würde, haben in der laufenden ersten Abstimmungsrunde alle bislang verhandelten Artikel die notwendige Mehrheit von 330 der 550 Abgeordneten erzielt.

Etliche AKP-Abgeordnete haben ihr Stimmverhalten in dieser ersten Runde öffentlich gemacht. Das verbietet die Verfassung zwar, beweist aber Loyalität. Entscheidend ist im Parlament allerdings die zweite Wahlrunde - und dann die Abstimmung über das Gesamtpaket aus allen 18 Artikeln. Dass die AKP und die ultranationalistische MHP - deren Chef Devlet Bahceli die Reform unterstützt - nervös sind, darauf könnten deren Warnungen hindeuten: dass Neuwahlen wohl unausweichlich wären, sollte die Reform im Parlament scheitern.

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