Wachsende Metropolen Das Drama der Megastädte

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Grafik: Städtische Bevölkerung/Megastädte 1975 (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Ansicht)

Entsprechend rasant hat sich die Zahl der Ballungsräume entwickelt. Um 1900 war London mit 6,5 Millionen Einwohnern noch das Maß aller städtischen Dinge, New York kaum vier Millionen Einwohner groß, Berlin die viertgrößte Stadt der Welt (2,7 Millionen), gleich nach Paris (3,3 Millionen) – und weit vor Chicago und Wien (je 1,7 Millionen) auf den Rängen fünf und sechs. 17 Millionenstädte gab es damals weltweit. Fünf Jahrzehnte später waren es bereits 84, wobei sich mehr als die Hälfte (44) der Metropolen auf Europa und Nordamerika verteilte. Heute gibt es weltweit 900 Agglomerationen mit mehr als 500 000 Einwohnern, die Hälfte davon in Asien – und 327 von 431 Millionenstädten (76 Prozent) verteilen sich über Asien, Lateinamerika und Afrika. Schnell wachsende Megasiedlungen wie Delhi (Indien), Dhaka, Lagos (Nigeria) und Kinshasa (Kongo) werden in anderthalb Jahrzehnten 15 bis 22 Millionen Einwohner zählen – und Paris (27) London (37), Rom (141), Berlin (132) und Wien (213) in der Rangfolge der weltweit größten Städte weit hinter sich lassen.

Das zentrale Problem dieser Megastädte in den Schwellen- und Entwicklungsländern ist, wie Dekadenztheoretiker Spengler prophezeite, ihre schiere Formlosigkeit, ihre Größe, Armut, Verwundbarkeit und Unregierbarkeit.

Elendszonen der modernen Menschheit

Es fehlt diesen Städten an aufklärerischem Kapital und fortschrittlicher Substanz. Sie sind kaum Orte der Freiheit, der politischen Emanzipation, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der sozialen Gerechtigkeit, keine privilegierten Inseln der Bildung, Individualität und Kreativität, keine verdichteten Verheißungsräume für Kapitalisten, Händler und Handwerker, sondern bestenfalls neureich-funktionale Auto-, Abgas- und Asphaltdschungel ohne fußgängerischen Verweil- und Aufenthaltswert (Seoul, Taipeh), autoritäre Geld-, Shopping- und Ferienparadiese aus der klimatisierten Retorte (Dubai, Singapur) – und schlimmstenfalls urban sinks, letzte Zufluchtsstätten, Elendszonen der modernen Menschheit, Müllkippen für Millionen von Gelegenheitsjobbern, die in ausufernden Slums ein marginales Dasein fristen. Die Megastädte des 21. Jahrhunderts werden daher etwas völlig anderes sein, als es die Metropolen des 19. und 20. Jahrhunderts waren: keine Global Citys mehr wie ihre Vorfahren, keine Sehnsuchtsorte, deren Bedeutung und Faszination sich über Kontinente, ja: den ganzen Erdball erstreckte, sondern meist nur noch große, bevölkerungsreiche Städte von nationaler, manchmal allenfalls regionaler Bedeutung.

Viele Riesenstädte fallen im globalen Wettbewerb zurück

Grafik: Städtische Bevölkerung/Megastädte 2025 (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Ansicht)

Kleine Städte wie Frankfurt (europäisches Flughafen- und Bankenzentrum) oder Genf (Sitz der WTO) können heute Global Citys sein, Brückenköpfe der Weltwirtschaft, Steuerungszentralen des Dienstleistungsgewerbes, Hauptquartiere transnationaler Unternehmen – während Riesenstädte wie Bagdad (fünf Millionen Einwohner), Tianjin (sieben Millionen), Teheran (acht Millionen Einwohner) oder Karatschi (zwölf Millionen) zurückfallen im globalen Wettbewerb und auf das Niveau von Hüttenmetropolen zu sinken drohen. Dazwischen gibt es wenige Städte wie Mexiko City oder São Paulo, die einstweilen beides sind: Global und Megacitys, Knotenpunkte eines Produktionsnetzes, das über die Grenzen Lateinamerikas hinausreicht, und zugleich Armenhäuser des Kontinents.

„Was uns alles in allem verloren geht“, sagt Frauke Kraas, Professorin für Anthropogeografie an der Universität Köln, „ist das Grundverständnis dessen, was eine moderne Großstadt heute ist und und in Zukunft ausmachen wird.“

Das Problem der modernen Megastädte fängt schon mit ihrer quantitativen Definition an: Fünf, acht oder zehn Millionen Einwohner – die Forscher sind sich nicht einig. Zudem enden urbane Räume heute weniger denn je an administrativen Grenzen.

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