Die Katastrophe überlagert alles. All die furchtbaren Bilder aus der zerbombten syrischen Millionenstadt Aleppo verdüstern die Gedanken über eine Weltregion, in der es schlimmer aussieht als jemals zuvor in den zwei Jahrzehnten, in denen ich für die WirtschaftsWoche den Nahen Osten beobachtet habe.
Aber was ist Aleppo? Die Frage klingt ignorant, und im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf hat sich mit dieser Frage der Kandidat einer Splitterpartei blamiert. Dabei kann auch kein Experte heute sagen, was aus der Katastrophe dort folgt. Und was wir Westler jetzt tun können.
Mit Sicherheit kann das der amerikanische Wahlsieger nicht. Im Gegenteil: Donald Trumps baldiger Machtantritt hat „Unsicherheit und insbesondere Absturzrisiken in der nahöstlichen Region gesteigert“. Sagen die von Berufs wegen emotionslosen britischen Analysten von Oxford Economics. 2017 könnte es nach ihrer Meinung einen erneuten Preissturz beim Öl geben, wenn Trump wie angekündigt die amerikanische Rohölförderung ankurbelt – aber auch eine Preisexplosion, falls die US-Konjunktur auf Steuersenkungen reagieren sollte.
Warum Aleppo im syrischen Bürgerkrieg so wichtig ist
Aleppo hat sich zum Symbol für den verheerenden Konflikt entwickelt. Die Stadt war nahezu seit Beginn der Kämpfe zwischen Regime und Rebellengruppen geteilt und ist das am schwersten umkämpfte Schlachtfeld in dem Krieg. Wer hier siegt, hat auch einen immensen psychologischen Vorteil.
Aleppo ist die letzte Großstadt, in der Aufständische noch Gebiete kontrollieren. Damaskus und Homs sind fest in der Hand der Truppen von Syriens Präsident Baschar al-Assad. Den Rebellen blieben ohne die ehemals größte Stadt des Landes nur noch einige eher ländliche Gebiete wie die Provinz Idlib.
Nicht zu unterschätzen ist der militärische Spielraum, den die syrische Armee bei einer Eroberung gewinnen würde. Die Schlacht um die ehemalige Handelsmetropole bindet viele Kräfte. Diese könnten sich dann auf andere Rebellengebiete des Landes konzentrieren und das Ende des Bürgerkrieges erzwingen.
An der Entwicklung in der nordsyrischen Stadt lässt sich der Einfluss Russlands seit seinem Kriegseintritt vor mehr als einem Jahr sowie der des Irans ablesen. Ohne diese beiden Verbündeten wäre das geschwächte Regime nicht in der Lage gewesen, die Rebellen so in die Defensive zu drängen.
An Aleppo zeigt sich die Schwäche und die verfehlte Politik des Westens, allen voran der USA und seiner Verbündeten. Sie ließen ein Machtvakuum im Bürgerkrieg entstehen, in das Moskau zugunsten der syrischen Regierung vorstieß - und gucken nun ohnmächtig der zivilen Katastrophe zu.
Die Eroberung Aleppos würde dem Regime eine starke Verhandlungsbasis für künftige Friedensgespräche geben - falls Assad diese angesichts seines Siegeszuges überhaupt für nötig halten sollte.
Oxford-Ökonom Liam Collins und seine Kollegen fürchten um die Stabilität der ganzen Region, wenn Trump wie angekündigt das Engagement der USA in den Krisenstaaten von Afghanistan bis zum Jemen zurückfährt, gleichzeitig aber das Nuklearabkommen mit dem Iran aufkündigt. Die Furcht vor Trump, stellen die Analysten fest, verteuert jetzt schon die Anleihen nahöstlicher Gläubiger und erhöht den Inflationsdruck überall im Nahen Osten.
Aber sind das angemessene Themen angesichts des menschlichen Leids? Ja, wir müssen davon reden, und nicht nur, weil dies die WirtschaftsWoche ist. Die Kette der elenden Entwicklungen im Nahen Osten, die uns so viel klarer geworden sind, seit viele Flüchtlinge – manche fürchten: viele Terroristen? – in unsere Städte kommen, bleibt sonst unverständlich. Nur der Blick auf die Wirtschaft der leidenden Länder und auf die Interessen ihrer Herrscher bringt uns an die Ursprünge. Wir müssen darum sogar noch einmal nach Aleppo.
Bei meinen vielen Dienstreisen in den Nahen Osten habe ich von Aleppo nur den Flughafen kennen gelernt: 2007, lange vor dem Bürgerkrieg, landete hier das Flugzeug der Syrian Arab Airlines auf dem Weg von Frankfurt nach Damaskus, außerplanmäßig. Drei einheimische Herren durften einsteigen, nahmen in der ersten Klasse Platz, verdrängten drei Passagiere von dort in die Businessclass und in logischer Kettenreaktion von dort wiederum drei Herren weiter nach hinten. Drei Economy-Fluggäste mussten auf Notsitzen Platz nehmen.
Eine aufschlussreiche Flugreise
Neben mir saß von Aleppo bis Damaskus einer der Business-Vertriebenen, ein amerikanischer Ingenieur mit syrischen Wurzeln. Der erklärte mir, dass es sich bei einem der neuen Passagiere um einen prominenten Spezi des Präsidenten Baschar al-Assad handelte, den von zwei Assistenten begleiteten Parlamentspräsidenten. „Das muss man hier eben hinnehmen“, meinte der Amerikaner. Er wollte halt in Damaskus Geschäfte machen.
Ein Fehler. Und einen ganz ähnlichen Fehler machte auch ich, so wie fast alle meine Kollegen: weil ich damals nach meiner Rückkehr über Steuerreformen der Assad-Regierung schrieb und über Investitionen libanesischer Banken, über Liefergeschäfte deutscher Maschinenbauer und die Pläne syrischer Bauunternehmer für den Tourismus.
Alltag in einer Diktatur. Und in dieser Weltregion normal
Dabei wäre die kleine Geschichte aus dem Flugzeug viel aufschlussreicher gewesen: Wegen der Laune eines Spitzenfunktionärs mussten sechs oder neun Fluggäste auf den gewohnten und bezahlten Komfort an Bord verzichten. Alltag unter einer schlampigen und bösartigen Diktatur. Und in dieser Weltregion normal.
Genau das ist es, was die meisten Leute seit vier, fünf Jahren nicht mehr ertragen, in Syrien wie in Tunesien, in Ägypten wie im Jemen und den meisten Ölstaaten. Was 2011 geschah, nannten wir den Arabischen Frühling und schauten nicht genau genug hin, weil wir meinten, die Machthaber ließen sich das Recht auf spontane Herumfliegerei in der ersten Klasse einfach so nehmen. Und weil wir meinten, alle anderen, von der Businessclass bis zu den unsichtbaren Putzkräften und den schlagkräftigen militärischen Einheiten in den dunklen Winkeln des Flughafens, würden sich reibungslos auf eine neue, gerechte Neuverteilung der Plätze einigen.
Aber so funktioniert der Sturz von Willkürherrschaft und der Abschied von Privilegienwirtschaft nicht. Schon gar nicht in Ländern, die ethnisch und religiös gespalten sind, deren Grenzen einst von europäischen Kolonialisten gezogen wurden, deren Herrscher sich jahrzehntelang wahlweise mit sozialistischen Parolen oder mit einer geheuchelten Religiosität zu legitimieren suchten.
Saudischer Krise, islamisches Dilemma
Die Freiheitsbewegung von 2011 liegt, außer in Tunesien, überall am Boden. Religiöse Heuchelei hat den islamistischen Dämon produziert, der in Gestalt des selbst ernannten „Islamischen Staates“ militärisch immer schwächer und als internationale Terrororganisation immer stärker geworden ist. Beides wird in der Ära des Donald Trump zunehmen. Als Terrorbande könnte der „IS“ schon 2017 zur lebensbedrohlichen Gefahr für die Ölherrscher am Golf werden.
Für die arabische Führungsmacht Saudi-Arabien war schon 2016 ein katastrophales Jahr mit gewaltigen Wirtschaftsproblemen. Daran wird keine Kehrtwende der Ölpolitik viel ändern. Auch außenpolitisch musste das Königreich Rückschläge hinnehmen, von Syrien über den Jemen bis zu den USA, wo bald der Islamhasser Trump regiert. Dem bankrotten ägyptischen Gefolgsmann Abdelfattah al-Sisi haben die zunehmend klammen Saudis die Subventionen streichen müssen. Damit aber ist Ägypten, das einwohnerstärkste und kulturell bedeutendste arabische Land, ihrem Einfluss entglitten. Arabien ist führungslos.
Wirtschaftliche Kooperation zwischen den Staaten hat es im Nahen Osten nie gegeben – der Handel zwischen den diversen arabischen Ländern war schon immer minimal.
Und jetzt bricht auch die politische Kooperation zusammen. Stattdessen wächst die Rivalität der Saudis mit dem Iran. Doch Teheran ist alles andere als eine regionale Führungsmacht. Die Islamische Republik der iranischen Mullahs schafft es nicht, über die schiitischen Minderheiten hinaus Freunde zu gewinnen. Auf diese Weise kann man Syrien verwüsten und vielleicht die „IS“-Gebiete im Irak, aber das schafft nur neue Feinde in der Region.
Wir Europäer haben den Nahen Osten lange Zeit nur als große Tankstelle betrachtet, inzwischen vielleicht noch als Herkunftsort armseliger Flüchtlinge und feindseliger Dschihadisten. Beides reicht nicht als Politikersatz und auch nicht für ökonomische Kooperation. Für die fehlen uns Einsicht und Ansätze. Vielleicht hätte ich damals in Aleppo doch aus dem Flugzeug aussteigen sollen.