Werner Knallhart

Neues World Trade Center: the US way of Schlangestehen

Schlange stehen. Für Deutsche ein Zeichen für schlechte Organisation, für Amerikaner ein Kompliment: Auf Dienstleistung lohnt es sich zu warten. Was sich aber einige Amerikaner bieten lassen müssen, wäre bei uns undenkbar.

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Wer auf die Aussichtsplattform des neuen World Trade Centers will, muss mitunter sehr lange warten. Quelle: AP

Für mich persönlich ist Schlangestehen eine Demütigung. Ich kann das Gefühl von "die glauben wohl, mit uns kann man das machen" einfach nicht unterdrücken. Und so bin ich glühender Fan von DM, wo sie eine Klingel vor den Kassen hängen haben. Ringring - noch eine Kasse auf.
Und am Flughafen steige ich als Letzter ein und werde ganz traurig, wenn ich dann doch noch hinter dem Flugsteig in der Brücke rumstehen muss.

Deshalb wäre ich ein schlechter Amerikaner. Kürzlich schlenderte ich in Manhattan durchs Greenwich Village. Plötzlich geriet ich an einem Häuserblock in einen Menschenauflauf. Ich dachte: "Jesses, Brandschutzübung im Hochhaus?" Nein, die Leute standen nur an einer Salatstube an. Offenbar ist der Laden bei Yelp gut bewertet, also muss man da hin. Und so quetschten sich ein Anzugträger nach dem anderen mit seinem mickrigen Salat in der Einweg-Klarsichtbox in der Hand und mit rotem Gesicht durch die vollgestopfte Bude hindurch zurück auf die Straße und die Damen strichen sich ihre Haare glatt. Und die Gäste, die tatsächlich einen Sitzplatz ergattern konnten, sind umzingelt von im Stehen Wartenden.


Lieber würde ich verhungern. Aber die Amis sagen: Qualität hat ihren Preis. Man bezahlt mit Lebenszeit. Und gibt es ein größeres Kompliment als zu zeigen: Auf deinen Service warte ich gerne?

Oder sind die Amerikaner einfach disziplinierter als die Deutschen? Stellen Sie sich vor, Sie dürften nur der Reihe nach in einen ICE einsteigen. Erst finden Sie sich im Wartebereich ein, dann trappeln Sie auf Lautsprecher-Kommando im Gänsemarsch auf den Bahnsteig. Bei der US-Eisenbahngesellschaft Amtrak läuft das an den Startbahnhöfen genau so.
Starbucks und seine Ableger brauchen hier in den USA länger als in Deutschland. Für einen neuartigen Cronut, einem in den Medien hochgelobten Zwitter aus Croissant und Donut aus New York, stehen die Leute weit über eine Stunde lang vor der Bäckerei an und werden vom Personal in der Schlange mit Wasser versorgt. Das Urteil eines Kölner Kollegen nach einem Vormittag in der Schlange: "Joa, mein Gott, war irgendwie ganz lecker."

Ich selber hatte in Washington kürzlich einen Tisch reserviert. Auf 20 Uhr 45. Weil der Tisch aber noch belegt war, mussten wir eine knappe halbe Stunde stehend warten. Kein kleiner Aperitif aufs Haus, noch nicht mal gespieltes Bedauern seitens der Kellnerin. Bei uns in Deutschland traktiert das Personal doch schon nach fünf Minuten die unverschämten Tischbesetzer mit vorwurfsvollen Blicken.


Aber es geht noch eine Drehung weiter: Am Abend drauf betraten wir ein Restaurant ohne Reservierung. Und lernten dann das Warten wegen Warten. Zwar waren zwei Leute mit Reservierung seit über 30 Minuten überfällig und kamen nicht. Aber die Tischzuweiserin wollte lieber noch warten. Warten beruht hier nämlich auf Gegenseitigkeit. Nach insgesamt 45 Minuten gab sie uns den Tisch frei.

Schlange stehen und Warten gehört für einen Amerikaner zum Leben. Das ist eingepreist wie die Zeit zum Schlafen und wird nicht hinterfragt. Von Ausländern aber schon.

Schlangestehen am neuen World Trade Center

Vergangene Woche wollte ich aufs Aussichts-Deck des neuen World Trade Centers in New York. Ein Freund begleitete mich. Und ich war gelinde gesagt ziemlich verdattert, als wir um die Ecke schlenderten und ich schon von weitem die Menschen-Schlange vor dem Gebäude sah. Die Schlange war lang, es war um die 8 Grad kalt, ich war zu dünn angezogen und wie das zwischen Wolkenkratzern eben so ist: Es zog wie Sau!
Ich sagte: "Warte mal hier. Ich gucke drinnen, warum der Mist hier nicht weitergeht!"
Drinnen stand ein Schild, das mich schaudern ließ. Ich fragte eine Frau in World-Trade-Center-Uniform: "Sagen Sie mal: Hier steht, dass die Aussichtsplattform heute um 17 Uhr 30 schließt. Es ist 17 Uhr 20."
"Sie haben Recht, Sir, wir schließen gleich. Bitte kommen Sie an einem anderen Tag wieder."
Ich wieder draußen: "Du glaubst es nicht. Die schließen gleich. Und lassen uns hier zu Hunderten warten."
"Nicht dein Ernst." Schlange zu stehen war das eine, aber ohne erreichbares Ziel Schlange zu stehen, das kann man noch nicht mal einer Horde Orang-Utans vermitteln.
Da kam eine andere junge Frau mit World-Trade-Center-Jacke und einem Packen Gut-scheinen raus: "Unser Kassensystem ist außer Betrieb. Dadurch dauert der Ticket-Verkauf sehr lange. Dafür erhalten Sie als Entschuldigung einen Discount von 20 Prozent."
"Ich denke, Sie schließen jetzt."
"Ja, aber alle, die hier jetzt stehen, kommen noch rein. Es dauert bloß."
Vorne wiederum erwartete uns schon die resolute WTC-Lady vom Anfang. Als wir vor ihr standen, guckte sie uns an, als wären wir bescheuert.
Ich: "Ihre Kollegin hat gesagt, alle in der Schlange kommen noch rein."
"JESSY, ERZÄHLST DU HIER, DIE LEUTE KOMMEN NOCH REIN?"
Von hinten krähte es: "YEAH. SURE."
"Oh, whatever." Die Autorität ließ das Absperrband zurück schnalzen.
"Sorry", sagte die Kassiererin hinter der Glasscheibe, "unser Kassensystem ist außer Betrieb. Ich kann keine Rabatt-Gutscheine eintippen."


Ich hörte mich trocken schlucken. Halten wir fest: Amerika 2016 im modernsten, höchsten Wolkenkratzer der westlichen Welt mit Sicherheitskontrollen wie am Flughafen. Das Kassensystem verreckt, dafür gibt es für die entstandenen Wartezeiten einen Gutschein zur Entschuldigung, den man aber nicht einlösen kann, weil das Kassensystem verreckt ist.
Ich weiß, man soll sich als Ausländer ja an die Gepflogenheiten des Gastlandes anpassen, aber irgendwo ist auch mal ein Punkt!
Die Lady sagte mit teilnahmslosem Gesicht: "Aber Sie können Ihren Gutschein gerne morgen einlösen. Ich entschuldige mich für die entstandenen Unannehmlichkeiten. 68 Dollar bitte."
"Das ist sehr nett von Ihnen. Aber: Wir haben nicht vor, die Aussichtsplattform zwei Tage hintereinander zu besuchen."
Sie rief ihren Chef. Der zeigte stumm auf dem Display herum und dann wurde geklickt, um Geduld gebeten und drei Minuten später hatten wir unsere 20 Prozent Rabatt.
Sie hätte uns aber auch Tickets für Hunde verkaufen können. Sie wurden später nicht mehr kontrolliert. In der Warteschlage vor dem Aufzug fragte mich eine Amerikanerin mit Mann und drei Kindern: "Haben Sie jetzt den Gutschein einlösen können?"
"Ja, nach ewiger Diskussion."
"Well. Dann haben die uns gerade 30 Dollar zu viel abgeknöpft."
Aber dann ging es schon weiter. Vorne öffnete sich ein Aufzug. Und wir mussten noch ordnungsgemäß im Zickzack durch die Gummiband-Absperrungs-Parcours. Nicht, dass gleich wieder einer meint, wir hätten beim Schlangestehen was falsch gemacht.

Der WiWo-Kollege Christian Schlesiger hatte sich nämlich vor drei Wochen am Flughafen Washington-Dulles direkt vom Gepäckband seitlich in den Pulk der Wartenden zur Zollkontrolle eingefädelt. Da schallte es von hinten: "Hey, hinten anstellen. Du bist jetzt in Amerika."

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