Wettbewerbsfähigkeit Frankreich eifert Deutschland nach

Frankreichs Industrie ist international nicht mehr wettbewerbsfähig. Nun will man dem Vorbild Deutschland nacheifern. Doch die eingeleiteten Maßnahmen sind dazu ungeeignet.

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Ganz Europa ist von der Globalisierung erfasst. Ganz Europa? Nein. Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Land hört nicht auf, die zunehmende weltweite Verflechtung von Kultur, Kommunikation, Politik, Umwelt und Wirtschaft zu ignorieren.

So wie einst Asterix’ Gallier ihr Dorf vor den Römern absicherten, würden viele Franzosen heute gerne einen Palisadenzaun um ihr ganzes Land ziehen – als Schutz gegen die Globalisierung. Und das ist ein generationsübergreifendes Gefühl. Einer jüngst veröffentlichten Umfrage zufolge sehen selbst unter den jungen Franzosen nur 17 Prozent die Globalisierung als positiv für ihr Land an. Das ist einer der niedrigsten Werte weltweit.

Frankreich schottet sich in vielerlei Hinsicht ab. Die Öffnung des Eisenbahn- oder Energiemarktes wird verspätet oder nur teilweise umgesetzt. Um heimischen Unternehmen wie Sanofi-Aventis, Alstom oder Danone zu helfen, greift man gern zu protektionistischen Maßnahmen.

Auf den ersten Blick wirkt Frankreich als Wirtschaftsmacht durchaus imposant. Als Standort für ausländische Investoren rangiert das Land auf Rang drei. Mit vielen Konzernen spielen die Franzosen weltweit in der ersten Liga. Dazu zählen Giganten wie das Kosmetikunternehmen L’Oréal, der Reifenhersteller Michelin, der Energiekonzern EDF, die Mineralölgruppe Total oder auch der Bauriese Bouygues. Und mit über 70 Millionen Touristen pro Jahr ist Frankreich die Nummer-eins-Destination für Reisende aus aller Welt.

Erfolg aus dem Ausland

Doch die Erfolge der nationalen Champions verbergen die dramatische wirtschaftliche Entwicklung im Land. Jahr für Jahr gehen in der Industrie 50 000 Arbeitsplätze verloren, eine halbe Million sind es seit 2000. Der Anteil des produzierenden Gewerbes liegt bei nur noch 13,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Deutschland: 25,6 Prozent). Das ist einer der niedrigsten Anteile unter den westlichen Industrienationen. Der Außenhandel, der noch im Jahr 2000 einen Überschuss aufwies, ist seit Jahren hoch defizitär. Der Fehlbetrag ging 2009 infolge der Wirtschaftskrise zwar von 56 Milliarden (2008) auf 44,2 Milliarden Euro zurück, stieg aber 2010 wieder auf 51,4 Milliarden an.

Und damit nicht genug. Der französische Anteil am Welthandel sank in den vergangenen 15 Jahren von 5,8 auf 3,8 Prozent. Für den französischen Ökonomen Patrick Artus, Chefvolkswirt der Investmentbank Natixis, ist Frankreich schon kein Industrieland mehr.

Staatspräsident Nicolas Sarkozy ist auch deswegen besonders besorgt, weil der Abstand zu Deutschland, dem kraftstrotzenden Nachbarn, rapide wächst. Eiligst gab er Studien in Auftrag, unter anderem beim Parlamentsabgeordneten und Steuerexperten Jérôme Chartier. Dieser schlägt unter anderem vor, eine Konvergenz mit dem deutschen Steuersystem anzustreben. Auch die „Generalstände der Industrie“ – eine nationale Versammlung von Professoren, Forschern, Industriellen, Sozialpartnern und Politikern – hatten die stark gestiegenen Lohnkosten und die hohe Abgabenlast, welche die Unternehmen tragen, für die negative Entwicklung des Landes verantwortlich gemacht.

Das Wirtschaftsinstitut COE-Rexecode schließlich analysierte, dass die Gründe für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie sämtlich hausgemacht seien. Der französische Rechnungshof empfiehlt ebenfalls eine Anlehnung an das deutsche Steuer- und Ab-gabensystem. Dieser rät dazu, die vielen reduzierten Mehrwertsteuersätze für einzelne Branchen komplett zu streichen oder deutlich anzuheben.

Das Besondere fehlt

René Lasserre, Chef des Forschungsinstituts CIRAC, das sich mit dem Nachbarland Deutschland befasst und regelmäßig Vergleiche zwischen beiden Ländern anstellt, sieht Frankreichs gesamte Industrie schon seit der ersten Ölkrise 1973 im Niedergang. Beispiel Autoindustrie: Sie ist zwar mit einem gewissen Recht noch immer der Stolz Frankreichs; Renault und PSA (Peugeot-Citroën) schreiben nach den katastrophalen Verlusten 2009 auch wieder schwarze Zahlen. Aber der Erfolg nährt sich vor allem von Autos, die außerhalb Frankreichs produziert werden – etwa von der Renault-Billigmarke Dacia, die in Rumänien ihre Heimat hat.

Die inländische Produktion von Pkws und leichten Nutzfahrzeugen ging zwischen 1997 und 2010 um 600 000 Einheiten auf 1,9 Millionen zurück. Im gleichen Zeitraum weiteten Frankreichs Autokonzerne ihre Produktion im Ausland um 2,9 Millionen Fahrzeuge auf 4,4 Millionen aus. Die deutsche Autoindustrie steigerte ihre Inlandsproduktion zwischen 1997 und 2009 dagegen von 4,7 auf 5,0 Millionen Pkws und erhöhte gleichzeitig ihre Auslandsproduktion kräftig.

In anderen Branchen war die Entwicklung ähnlich, etwa beim inzwischen zum Zwerg geschrumpften Computerkonzern Bull. Der einst verstaatlichte, später wieder privatisierte Konzern sollte es ursprünglich mit IBM aufnehmen. Doch trotz riesiger Subventionen des Staates schrumpfte die Mitarbeiterzahl von 45 000 auf 8600.

Nicht viel besser ging es dem einstigen Unterhaltungsgerätehersteller Thomson Multimedia. Er wurde mit Staatsgeldern gerettet und versucht nach einer Teilentschuldung und Gläubigerschutz heute als Medientechnologiekonzern namens Technicolor einen Neuanfang.

Die Chefin des französischen Arbeitgeberverbandes Medef, Laurence Parisot, läutete vor wenigen Wochen die Alarmglocke. Bewaffnet mit neuen Statistiken des europäischen Eurostat-Amtes, trat sie vor die Presse. Der bis zum Jahr 2000 bestehende Lohnkostenvorteil der französischen Industrie von 15 Prozent – der „einzige Wettbewerbsvorteil“ gegenüber Deutschland – sei weggeschmolzen. Mit einem durchschnittlichen Stundenlohn von 37,20 Euro lagen die französischen Lohnkosten im dritten Quartal 2010 um 23 Prozent über den deutschen (30,20 Euro). Das nationale Statistikamt Insee korrigierte das veröffentlichte Zahlenwerk später wegen angeblicher Berechnungsfehler. Die negative Tendenz zulasten Frankreichs sei zwar richtig, doch der Lohnkostenabstand geringer.

Vor allem der rasante Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns Smic und damit der niedrig qualifizierten Einkommensgruppen hatte katastrophale Auswirkungen. Hinzu kam die stufenweise Umsetzung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, mit der französische Arbeitnehmer auf Druck der Gewerkschaften ab Ende der Neunzigerjahre beglückt wurden. Der Staat gewährte den Unternehmen im Gegenzug Abgabenerleichterungen, die seitdem das Staatsbudget mit jährlich 22 Milliarden Euro belasten, und schuf Möglichkeiten, die Arbeitszeiten zu flexibilisieren. Das funktionierte bei Großkonzernen. Es stellte aber viele Mittelständler vor unüberwindliche Probleme.

Ein deutscher Vollzeitbeschäftigter arbeitet heute Eurostat zufolge eine Stunde und zwölf Minuten länger pro Woche als sein französischer Kollege. Das konnte auch nicht durch eine lange Zeit höhere, inzwischen aber deutlich gesunkene  Produktivität kompensiert werden. Dazu kommt eine sehr hohe Steuer- und Abgabenbelastung für die Unternehmen, die nach Angabe der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit über 44 Prozent so hoch ist wie kaum sonst wo.

Druck der Gewerkschaften

Frankreichs Unternehmen sind in hohem Maße an der Finanzierung der defizitären Sozialversicherung (vor allem Renten- und Krankenversicherung), aber auch der Familienleistungen beteiligt. Die Lohnnebenkosten betragen laut Arbeitgeberverband inzwischen mehr als 50 Prozent des Bruttolohnes. Das schmälert den Gewinn und führt dazu, dass vielen Unternehmen die Mittel für Investitionen fehlen.

Unter Druck stehen die Unternehmen auch wegen der Gewerkschaften, die viel stärker als in Deutschland noch auf Klassenkampf setzen. Eine Kultur der Mäßigung zum Wohl der Betriebe und zur Sicherung der Arbeitsplätze gibt es bei den französischen Gewerkschaften nur in Ansätzen. Während sich deutsche Arbeitnehmervertreter mit den Arbeitgebern zusammensetzen und Bündnisse für Arbeit schmieden, um betriebsbedingte Kündigungen zu verhindern und sich dafür bei Lohnerhöhungen zurückhalten, sind die französischen Gewerkschaften mit Streiks noch immer schnell bei der Hand. Erst seit wenigen Jahren gibt es ein vorsichtiges Umdenken. „Doch noch immer wird hier meist erst gestreikt und dann verhandelt“, beklagt ein französischer Unternehmer, „in Deutschland ist das umgekehrt.“

Während Großkonzerne zähneknirschend die hohen Löhne zahlen, leiden die kleinen und mittleren Betriebe des Landes. Anders in der Bundesrepublik. Dort tragen sie den Fortschritt und investieren kräftig. Die Innovationskraft französischer Mittelständler ist nur gering. Sie melden nur halb so viele Patente an wie deutsche Wettbewerber. Ihre Anfälligkeit für Währungs- oder Preisschwankungen ist entsprechend größer.

Geringe Wettbewerbsfähigkeit

Es fehlen den Franzosen große, weltweit erfolgreiche Mittelständler wie Haribo, Würth, Kärcher oder Miele – also leistungsfähige Unternehmen, die viel in die Forschung und in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren. Frankreich gibt mit 2,2 bis 2,3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt weniger für Forschung und Entwicklung aus als Deutschland – die Investitionsquote beträgt hier 2,6 bis 2,7 Prozent. Dass es nicht noch weniger ist, liegt vor allem daran, dass der französische Staat viel für Forschung ausgibt. Die Unternehmen halten sich dagegen zurück.

Den französischen Produkten fehlt häufig ein Alleinstellungsmerkmal wie es beispielsweise die Fabrikate, Geräte und Innovationen des deutschen Maschinenbaus haben. „Die qualitative Wettbewerbsfähigkeit der französischen Produkte ist gering. Die Waren können deshalb nicht teuer verkauft werden“, beklagt Henrik Uterwedde, stellvertretender Leiter des Deutsch-Französischen Instituts (DFI) in Ludwigsburg. Hinzu kommt: Der Kostenvorteil der französischen Hersteller hat sich während der letzten zehn Jahre immer mehr verringert, während Deutschland seinen Vorsprung bei der Produktqualität ausbaute – so ein Ergebnis der Regierungsstudie zur sinkenden Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs.

Die Präsenz französischer Unternehmen in Wachstumsmärkten wie China, Indien oder Brasilien ist grundsätzlich immer noch schwach. Der Fokus liegt auf Europa. Deutsche Unternehmen exportieren heute nach Brasilien, Russland, Indien und China über 40 Prozent mehr als ihre Wettbewerber aus Frankreich.

Hinzu kommt: Das für Deutschland so typische Zusammenspiel von Unternehmen, Verbänden und politischen Entscheidungsträgern auf lokaler und regionaler Ebene fehlt jenseits des Rheins weitgehend. Auch schlagkräftige Netzwerke, sogenannte Cluster, sind in Frankreich eher selten. In Deutschland existieren diese Cluster zum Beispiel im baden-württembergischen Maschinenbau oder in der Biotechnik rund um die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen, wo Hersteller und Zulieferer mit Forschungsinstituten, Fachhochschulen, Technologiezentren und Kommunen Hand in Hand arbeiten.

In Frankreich haben die Gebietskörperschaften häufig nicht die Befugnisse und oft nicht genügend Mittel für Wirtschaftsförderung, da sie seit der Reform der Gewerbesteuer kaum noch über eigene Steuerquellen verfügen. Oder es fehlt ihnen schlicht der Mut, eigenständig Entscheidungen zu treffen.

Es darf bezweifelt werden, dass Sarkozy mit seinen Beschwörungen, dem Beispiel Deutschlands zu folgen, den Kern der Problematik trifft. DFI-Experte Uterwedde meint: „Das ist alles nur ein Wahlkampf-Bluff. Es gibt keine schnellen Lösungen. Es dauert Jahrzehnte, um eine Veränderung herbeizuführen.“ Ein unternehmensfreundlicheres Klima ist nötig. „Wir sehen ja in Ostdeutschland, wie lange sich so etwas hinzieht“, erklärt Uterwedde. Zig Pläne hat er schon zur Ankurbelung des französischen Mittelstandes gesehen. Die meisten verpufften ohne Wirkung.

Auch jetzt wieder setzt die Regierung auf staatliche Großprojekte wie die hoch subventionierte Entwicklung von Elektroautos, neue Flugzeugprojekte oder die „Nuklearindustrie von morgen“. Die Reaktor-Havarie in Japan und in der Folge ein weltweites Abrücken von der Atomindustrie zeigt, wie anfällig die Strategie ist. Selbst der gute Ansatz, Forschungsausgaben steuerlich zu fördern, dürfte vor allem den Großen zugute kommen, glaubt Lasserre. Dass das deutsche Modell nicht einfach kopiert werden kann, schwant inzwischen sogar Wirtschaftsministerin Christine Lagarde.

Mangel an Fachkräften

Selbst die Großkonzerne sind nicht zufrieden. Noch-Renault-Vize Patrick Pélata oder PSA-Chef Philippe Varin klagen über die hohen Kosten des Produktionsstandorts Frankreich. Die Folge: Arbeitsplätze am Heimatstandort werden ins Ausland verlagert – so wie bei Renault und Peugeot-Citroën. Auch L’Oréal baut immer mehr Jobs ab und in Asien wieder auf.

Gleichzeitig verschärft sich im Land der Fachkräftemangel. Ein Grund ist die mangelnde Eignung vieler Schulabgänger für die Industrie. Jährlich brechen 150 000 Jugendliche ihre Schulausbildung vorzeitig ab. Hinzu kommen 300 000 Auszubildende, die ihre Lehre nicht beenden. Die Lehre als Ausbildungsweg hat in Frankreich in der öffentlichen Meinung einen schlechten Ruf. Außerhalb des Handwerks gilt sie als Sackgasse für Berufsversager. Mit Ausnahme der Absolventen der Eliteschulen finden selbst viele Universitätsabgänger nur schwer einen Arbeitsplatz: Sie sind gebildet, doch wegen des völlig praxisfernen Studiums in Hochschulen ungeeignet für den Arbeitsmarkt.

Das Interesse an Jobs in der Industrie ist allerdings auch nicht groß. Facharbeiter mit guter Ausbildung verdienen nur unwesentlich mehr als kaum qualifizierte Arbeiter, die den Mindestlohn von 1365 Euro kassieren. Auch die Bereitschaft, sich auf eigene Kosten weiterzubilden, ist entsprechend gering. Wen wundert da, dass die Jugendarbeitslosigkeit mit 23 Prozent fast dreimal so hoch ist wie in Deutschland.

Wenig Investition in Weiterbildung

Auch den Unternehmen fehlt das Geld, um Mitarbeiter weiterzubilden. Sie geben für Weiterbildung nur ein Sechstel der Aufwendungen deutscher Firmen aus. „Es könnte helfen, Anreize zur Aufnahme eines Jobs zu schaffen, statt die großzügige Arbeitslosen- oder Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen“, meint Cirac-Chef Lasserre.

Doch auch wenn es darum geht, Initiativen schnell umzusetzen, ist Frankreich nicht unbedingt beispielhaft. Das hat die nur mit Mühe durchgebrachte bescheidene Rentenreform gezeigt: Die Pläne reichen nicht aus, um das schon bestehende Defizit in den Rentenkassen zu stopfen. Etwa 15 Milliarden Euro des bis zum Jahr 2018 erwarteten Fehlbetrages müssen durch das Staatsbudget finanziert werden.

In einer Angelegenheit sind die Franzosen allerdings äußerst produktiv. Mit einer Geburtenrate von statistisch gesehen 2,02 Kindern pro Frau ist Frankreich in Europa Primus. Noch vor 2050 wird die Republik mehr Einwohner haben als Deutschland.

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