Wie ein Deutscher in China sein Land sieht Deutschland - das Land der Freizeitoptimierer

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Kleine Risse in der Komfortzone

Was Deutschland mit China verbindet
Das kommunistisch regierte China ist mit gut 1,3 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde. Quelle: dapd
Mit einer Fläche von knapp 9,6 Millionen Quadratkilometern ist es etwa 27 Mal so groß wie Deutschland. Quelle: Reuters
Trotz eines Bruttoinlandsprodukts von 5,88 Billionen US-Dollar (2010) und einem Wachstum von 9,2 Prozent im vergangenen Jahr ist besonders die Landbevölkerung von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen . Quelle: dpa
2010 exportierten deutsche Unternehmen Waren für 53,6 Milliarden Euro nach China. Im Vergleich zum Jahr zuvor entsprach das einem Plus von 43,9 Prozent. Die Einfuhren lagen 2010 bei 76,5 Milliarden Euro (35,0 Prozent mehr als 2010). Quelle: dpa
Aus der Bundesrepublik werden besonders Maschinen, Anlagen, elektrotechnische Produkte und Autos nach China verkauft. Quelle: dapd
Von dort kommen vor allem Elektrotechnik und Kleidung. Quelle: dpa
Die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen beliefen sich 2010 auf 697 Millionen Euro nach 857 Millionen im Jahr zuvor. Quelle: REUTERS

Diese Haltung spiegelt sich in der politischen Einstellung wieder. Der Staat soll die Komfort-Zone schützen und sie auf größtmögliche Anzahl von Personen ausdehnen. Die bevorzugte Parteienkombination meines Freundeskreis' ist Rot-Grün. Die CDU wird wegen ihres noch immer nach Konservativismus riechenden Gesellschaftsmodells ignoriert. Die Linke wird mal mit weniger mal mit mehr Interesse toleriert. Der FDP aber schlägt blanker Hass entgegen. Weniger Staat würde bedeuten: mehr Unsicherheit, mehr Risiko, die Komfort-Blase könne eines Tages platzen.

Noch etwas ist mir aufgefallen: Ende 2013, als alle Deutschen Pakete für Weihnachten bestellten, kam eine Debatte über die Lagerarbeiter von Amazon in Gang. Kritisiert wurden die harten Arbeitsbedingungen und der geringe Lohn. In mehreren deutschen Publikationen erschienen Reportagen, bei denen sich die Autoren undercover einschmuggelten und darüber berichteten oder Paketauslieferer bei ihrer Arbeit begleiteten. Der Tenor dieser Texte: Arme, hilflose Menschen werden von Großkonzernen ausgebeutet.

Zwei meiner Freunde sagten, sie würden nun nicht mehr bei Amazon bestellen. Ihnen täten die Arbeiter dort leid. Als wir zufällig  im Rahmen des Gesprächs auf China kamen, schlug eine von ihnen die Arme über den Kopf zusammen und rief: "Diese armen Wanderarbeiter, ich will das alles gar nicht hören!"

Ist es nicht möglich, schlechte Arbeitsbedingungen zu kritisieren und gleichzeitig die Arbeiter, nicht zu Opfern zu stilisieren? Sie vielleicht sogar zu heroisieren? Ist es möglich, dass sich hinter den vermeintlich Ausgebeuteten vielleicht aufstiegswillige Polen, Tschechen und bald auch Bulgaren und Rumänen befinden?

Gering bezahlte Arbeit verstört viele Deutsche: Sie deutet daraufhin, dass der in Westdeutschland über drei Generationen erlangte Wohlstand eben vielleicht doch nicht von alleine auf uns herabgefallen ist, sondern von irgendwem irgendwann einmal erarbeitet worden ist, dass auch Deutschland einmal sich in einer Aufbau- und Transferphase befand, in der China heute ist. Es sind kleine Risse in der Komfortzone.

Die Wanderarbeiterin Li lebt seit acht Jahren in Shanghai. Ursprünglich kommt sie aus der zehn Busstunden entfernten Nachbarprovinz Anhui. Ihr Ziel ist es, genug Geld für das Alter und die Ausbildung ihrer Tochter zurückzulegen. In der Stadt kann sie ein Vielfaches von dem verdienen, was Arbeiter auf dem Land bekommen. Ihre achtjährige Tochter wächst wie jedes fünfte Kind in China bei den Großeltern auf.

Ich frage sie, ob sie glücklich ist. Sie versteht die Frage nicht, auch nicht, nachdem ich mehrmals nachgefragt habe. Aber ich verstehe langsam: Lis Leben wird von zwei Seiten bestimmt - die Freude, bitterster Armut in Form von Hunger entkommen zu sein, und dem Willen, die Chancen für ihre Tochter weiter zu verbessern. Sich darüber zu beklagen, ergibt für sie keinen Sinn. Glück ist für sie keine Kategorie. Noch nicht.

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